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Wie soll das Glauben gehen?
Hinweise aus Sören Kierkegaards „Philosophischen Brocken“

Welche Rolle spielt das subjektive Gefühl, wenn es um ein Glauben an Gott geht?

Der Philosoph Immanuel Kant hatte den Glauben dem rationalen Vernunftgedanken unterstellt, allerdings fand auch bei ihm, wenn auch weit geringer gewichtet, das religiöse Gefühl seinen Platz. Vernünftig betrachtet wäre die Zeit des Glaubens ohnehin vorbei im 21. Jahrhundert, wo der Gedanke an einen Gott, der Mensch wurde, starb und wieder auferstand, für viele Menschen nicht nur „unvernünftig“ erscheint, sondern auch „nutzlos“, zumal in einer Gegenwart, in der Google als tägliche Lebenshilfe fungiert und es für fast alle natürlichen Phänomene eine chemische, physikalische und mathematische Beweislast zu geben scheint. Trotzdem erlebt doch der Mensch – jeder Mensch – im eigenen Körper seine Erfahrung in der Welt, die sich real, wirklich und zweifellos anfühlen dürfte. Kann also auf ein Gefühl als Wirklichkeitsindikator vertraut werden oder hat die individuelle Erfahrungsmöglichkeit einen geringeren Erkenntniswert als die Gewissheit der Vernunft? Wenn die subjektive Erfahrung das individuelle Leben erlebbar macht, der Wille als Motor der Lebensgestaltung und die Vernunft als Leitfaden für ein gelingendes Leben betrachtet werden kann, müssten diese nicht gleichwertig geschult und anerkannt werden?

Was aber, wenn der Mensch zwar zu glauben wünscht und in einem solchen Glauben Halt finden möchte, aber nicht weiß wie, da doch der Verstand immer wieder vor den gleichen Fragen stehen bleibt oder schon der Gedanke, sich so weit vor zu wagen und dann vielleicht Enttäuschung zu erfahren oder belächelt zu werden, Angst macht? Ich möchte in dieser Hausarbeit am Beispiel des Philosophen Sören Kierkegaards darlegen, welches Gewicht dem erfahrbaren Glauben gegeben werden kann. Anhand der Lektüre von Kierkegaards Schrift „Philosophische Brocken“ möchte ich aufzeigen, wie Verstand und Glaube miteinander ringen, wie es zur Lösung eines qualitativen Sprunges bedarf und wie ein solcher Sprung in das Ungewisse gewagt werden kann. Schließlich soll beleuchtet werden, wie Glaube und Gefühl zueinanderstehen und ob der Glaube etwa selbst als Gefühl betrachtet werden kann. Dafür bezog im 18. Jahrhundert bereits der Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher Position, der dem religiösen Gefühl eine eigene Definition gab und damit am Anfang einer theologischen Debatte steht, die in der Erfahrung eine zeitgemäße, wenn nicht sogar die eigentliche Begründung des religiösen Glaubens sieht.

Was tun Menschen, wenn sie glauben? Gestützt u.a. auf die Beiträge der Philosophen István Czakó, Noel S. Adams und Rick Anthony Furtak zu den Darlegungen Kierkegaards soll insbesondere das bei Kierkegaard entwickelte Bedingungsfeld für die Erfahrung der transzendentalen Wirklichkeit näher bestimmt werden. Schließlich soll mit dem Theologen Hartmut von Sass ein durch emotionale Gestimmtheit erlangter religiöser Erkenntniswert aufgezeigt werden, der die Relevanz der Emotionen für die individuelle Lebensgestaltung betrachtet. Ich möchte die These belegen, dass ein Glaube in der heutigen zweifelsbereiten und zweifelsfreudigen Zeit gerade durch die persönliche Erfahrbarkeit des nichterklärbaren Geheimnisses Gottes, die sich im Glaubensvollzug selbst ereignet, als eine Möglichkeit für die Einzelne und den Einzelnen offensteht.

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Sören Kierkegaard – Werdegang und Wirkung

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard war ein Zeitgenosse von Karl Marx und wie dieser, wenn auch in anderer Hinsicht, ein entschiedener Kritiker der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Durch sein Bestreben, sich mit seinen philosophisch-theologischen Werken an den Einzelnen in seiner subjektiven Existenz zu wenden, gilt er als ein Vorläufer des Existentialismus. Ebenso wie er Position gegen den Hegelianismus bezog, der nicht zuletzt Glauben und Wissen durch das harmonisierende System von These, Antithese und Synthese spekulativ vermische und damit den Menschen von den unbeweisbaren Wahrheiten seiner Existenz entferne, kritisierte er öffentlich das „gedankenlose Massenchristentum“ der dänischen Staatskirche. Kierkegaards starkes Interesse an der Wirklichkeit des konkreten und singulären Individuums und dessen ganz persönlichen Existenzentscheidungen scheint sich auch in der engen Verbindung zwischen seinem Leben und seinen Werken widerzuspiegeln.

Sören Aabye Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren und wuchs mit sechs älteren Geschwistern auf, von denen jedoch fünf noch im Kindesalter verstarben. Sein strenggläubiger Vater, der neben fünf Kindern auch zwei Ehefrauen beerdigen musste, war der Staatskirche treu verbunden, besuchte aber auch die Versammlungen der Herrnhuter Brüdergemeinde. Durch ihn erfuhr Kierkegaard eine strenge Erziehung nach christlichen Werten, die er selbst als prägend empfand:

„Als Kind wurde ich streng und ernst im Christentum erzogen, menschlich gesprochen: auf wahnsinnige Weise erzogen: Bereits in der frühesten Kindheit hatte ich mich an Eindrücken überhoben, unter denen der schwermütige Greis, der sie mir auferlegt hat, zusammenbrach – ein Kind, wahnsinnig, als schwermütiger Greis verkleidet. Furchtbar! Kein Wunder also, dass es Zeiten gab, in denen mir das Christentum als unmenschlichste Grausamkeit erschien, wenn ich auch niemals, selbst wenn ich am weitesten davon entfernt war, den Respekt dafür aufgab, fest entschlossen, besonders wenn ich selbst nicht wählen sollte, ein Christ zu werden, niemals jemanden in jene Schwierigkeiten einzuweihen, die ich kannte und die ich in dem, was ich las oder hörte, niemals erwähnt fand.“

Nachdem er das vorgeschriebene „Examen philologico-philosophicum“ (Latein, Griechisch, Hebräisch, Geschichte, Mathematik und Philosophie) abgelegt hatte, nahm Kierkegaard 1830 das Studium der Theologie an der Universität Kopenhagen auf, wo er Privatunterricht bei Hans Lassen Martensen (1808– 1884) nahm und eine Einführung in die Dogmatik Friedrich Schleiermachers (1768–1834) erhielt. Nach Jahren eines äußerst geringen Interesses an der Theologie, in denen er sich ganz dem Vergnügen überließ, nahm er das Studium schließlich wieder auf, um ein Versprechen an seinen eben verstorbenen Vater einzulösen, und beendete es 1840 mit dem ersten theologischen Examen. Im Anschluss daran verfasste er seine Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, deren Sokrates-Verständnis er jedoch später revidierte, wohingegen die Ironie als Form der Distanzierung für ihn von großem literarischem Interesse blieb. Ab Ende 1841 verbrachte er einige Monate in Berlin, wo er Vorlesungen Friedrich Schellings (1775–1854) über die Philosophie der Offenbarung hörte.

1843 erschien in Kopenhagen Kierkegaards erstes großes Werk Entweder-Oder unter dem Pseudonym Victor Eremita, in dem mit der „ästhetischen“ und der „ethischen“ zwei Lebensanschauungen zum Ausdruck gebracht werden, die sich auszuschließen scheinen. Kurz darauf, ebenfalls im Jahr 1843 und auf seinen 30. Geburtstag datiert, veröffentlichte er Zwei erbauliche Reden unter eigenem Namen, gefolgt von weiteren Reden. Zeitgleich erschienen noch zwei pseudonyme Werke, Die Wiederholdung und Furcht und Zittern. Unter weiteren Pseudonymen veröffentlichte Kierkegaard 1844 Philosophische Brocken, in denen sich der pseudonyme Verfasser Johannes Climacus auf den Weg begibt, sich als subjektiver Denker in seiner Existenz zu begreifen, sowie die Werke Der Begriff Angst und Vorworte. 1845 folgte die Schrift Stadien auf des Lebens Weg und im Jahre 1846 die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, worin Kierkegaard sich gegen Ende in einer „ersten und letzten Erklärung“ zu seinen zahlreichen Pseudonymen bekennt. Kierkegaard gedachte zu diesem Zeitpunkt, seine schriftstellerische Tätigkeit zu beenden. Durch eine publizistische Auseinandersetzung kam es nicht dazu. Stattdessen erschienen u.a. noch 1849 unter dem Pseudonym Anti-Climacus Die Krankheit zum Tode als Kierkegaards anthropologisches Hauptwerk und 1850 als letztes christliches Hauptwerk die Einübung ins Christentum.

Den Brocken und der Nachschrift werden von allen Werken Kierkegaards die größte philosophische und theologische Wirkung zugesprochen.14 In ihnen kann Kierkegaard mit Richard Purkarthofer ein „neues Verständnis der menschlichen Existenz [...] entwerfen“, verbunden mit einer Befragung des verbreiteten Verständnisses von Denken und Sein, die in der Frage nach der Wahrheit mündet. Sie ist aber für Kierkegaard, sofern sie die eigene Existenz betrifft, immer die Wahrheit des Einzelnen. Neben den pseudonymen Schriften und den „erbaulichen Reden“ existiert noch Kierkegaards literarischer Nachlass, der sich aus chronologisch geführten Tagebüchern bzw. „Journalen“ zusammensetzt. Im Oktober 1855 brach Kierkegaard auf offener Straße zusammen. Er verstarb im Kopenhagener Frederiks-Hospital am 11. November 1855.

Die Schrift „Philosophische Brocken“ (1844)

Die Schrift mit dem Originaltitel Philosophische Brocken oder Ein Bißchen Philosophie erscheint am 13. Juni 1844 unter dem Pseudonym Johannes Climacus, herausgegeben von Sören Kierkegaard. Das Vorwort ist ein kleines Kunststück voll von spitzfindiger Ironie und gelehrten Anspielungen, das den existentiellen Ernst des Anliegens hinter provokanten Scherzen verbirgt. Von Beginn an wird die scheinbar unprätentiöse Absicht geäußert, ein Gedankenprojekt zu formulieren, eine „Pièce“, ein Stückchen also, oder an späterer Stelle sogar eine „metaphysische Grille“, jedoch nichts in sich Geschlossenes oder Ganzes, schon gar nicht ein System wie bei Hegel, das er immer wieder bespottet. Die Gedankensplitter des Johannes Climacus und seines Alter Ego, dem namenlosen Gesprächspartner eingeschobener Dialoge, mit dem er ringt, sich überwirft und zuletzt an einem Strang zieht, und die vorgelegten kleinen, aber durchaus schweren philosophischen Brocken sollen einen Ausblick auf das Verhältnis der menschlichen Existenz, die dem Zeitlichen zugeordnet ist, zu dem Ewigen, zu Gott geben. Am 27. Februar 1846 folgt dann dieser locker vorgelegten Abhandlung ein bezugnehmendes, umfangreiches Werk desselben Pseudonyms, ebenfalls herausgegeben von S. Kierkegaard mit dem Titel: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Mimisch- pathetisch-dialektische Sammelschrift. Existentielle Einsprache, mit der er sein ursprüngliches Gedankenprojekt differenziert, erweitert und vervollständigt. Mit den Brocken und der Nachschrift widmet sich Climacus der Differenz von Vernunft und Glauben, genauer dem Verhältnis von Glauben und Wissen. Er formuliert die Fragestellung in den Philosophischen Brocken so: „Kann es einen historischen Ausgangspunkt für ein ewiges Bewusstsein geben?“. Mit dem ewigen Bewusstsein bezeichnet er, wie die Philosophin und Theologin Liselotte Richter ausführt, das religiöse Bewusstsein oder aber im eigentlichen Sinne den christlichen Glauben, der sich, obwohl auf das Ewige gerichtet, an einen historischen, also zeitlichen Moment bindet, zu dem er sich dem Menschen offenbart und darin mitteilt. Dies geschieht durch die Inkarnation des sich offenbarenden Gottes in einem Menschen – dem historischen Jesus von Nazareth – und ist der Ausgangspunkt einer daraus resultierenden individuellen Glaubensentscheidung, die zum Augenblick der Erkenntnis bzw. der ewigen Erlösung des Menschen wird. Dieses widersprüchliche Verhältnis von Zeit und Ewigkeit gilt es dem Verfasser nach auszuleuchten und in seinen Folgen zu klären. Das Besondere an den Philosophischen Brocken ist das von Climacus dargebotene Verständnis einer solchen Gotteserfahrung, die dazu einlädt, einige traditionelle Vorstellungen in der Erkenntnistheorie und Metaphysik zu überdenken. Übersetzt könnte die Frage von Climacus, die er mit den Philosophischen Brocken und der Nachschrift aufwirft, also lauten: Wie gelange ich als einzelner Mensch in meinem Leben zu einer Gotteserfahrung und damit zu meiner subjektiven Erkenntnis der Wahrheit? Seinem durchaus verzweigten Gedankenprojekt nähert sich Climacus unter Verwendung von Bildmotiven, Gleichnissen und Erzählungen aus Mythologie, Bibel und Volksliteratur, die seinen Gedankengang illustrierend anreichern. Zentrale Motive und Begriffe, die den Leser daran heranführen sollen, wie der „Gott“ in der „Zeit“ zum Einzelmenschen kommt, sind der Schüler und sein Lehrer, die Leidenschaft und das Ärgernis des Paradoxes, die Bedingung, die zur Erkenntnis erhalten werden muss, der Skeptiker und der Sprung in ein Vertrauen oder, aber vor allem, in das Unbekannte.

Anleitung zur Erkenntnis: Lehrer und Schüler

Johannes Climacus beginnt sein Gedankenprojekt, indem er sich mit dem Leser fragt, inwieweit überhaupt die Wahrheit gelehrt werden kann. Er baut seine Argumentation auf der sokratischen Frage auf, inwieweit die Tugend gelehrt werden könne, und bringt damit den Schüler und seinen Lehrer ins Spiel. Sokrates zufolge braucht der Schüler, der etwas lernt, nur vom Lehrer an ein bereits bestehendes, ewiges Wissen ihn ihm selbst erinnert zu werden. Er kann im Miteinander-Philosophieren die Erinnerung an das Wahrheitswissen erlangen. Kein fremdes Wissen von außen wirkt auf den Schüler ein, denn dieser besitzt die Wahrheit schon immer in sich selbst, die gewissermaßen nur wachgeküsst werden muss. Sokrates als Hebamme – oder der Lehrer an sich – leistet lediglich Geburtshilfe bei der Erkenntnis des Schülers. Dessen Selbsterkenntnis, so Climacus, ist nach sokratischer Auffassung Gotteserkenntnis. Nun weist Climacus allerdings auf das Dilemma hin, dass der Mensch bei der Selbsterforschung nicht mehr die göttliche Wahrheit in sich selbst finden könne, da die Wahrheit durch die Sünde verlorengegangen sei, damit zugleich aber auch die Bedingung, die Wahrheit in sich selbst zu erkennen, und das auch noch durch die eigene Schuld des Menschen. Wenn wir Menschen aber die Wahrheit durch die Sünde verloren haben, wenn wir also nicht zu ihr kommen, sondern gewissermaßen von ihr weggehen, wie können wir noch auf sie aufmerksam werden?

„Soll der Lehrer der Anlaß sein, der den Lernenden erinnert, dann kann er ja nicht dazu beitragen, daß er sich erinnert, eigentlich wisse er die Wahrheit, denn der Lernende ist ja die Unwahrheit. [...] meine eigene Unwahrheit kann ich nur durch mich selbst entdecken, denn erst wenn ich [Hervorheb. i. Orig.] sie entdecke, ist sie entdeckt, früher nicht, selbst wenn es die ganze Welt wüßte.“ [...] Soll nun der Lernende in den Besitz der Wahrheit gelangen, so muß der Lehrer sie ihm bringen, und nicht bloß dies, sondern er muss ihm die Bedingung, sie zu verstehen, mit dazugeben.“

Der Lehrer, und sei es Gott selbst, kann Climacus zufolge die Wahrheit also nicht im Menschen erwecken, da sie ja verloren wurde, sondern er muss sie ihm überbringen und das in einer Weise, sodass er sie begreifen kann. So schlussfolgert Climacus, dass es einen Anlass braucht, einen zeitlichen, historischen Moment im Leben des Menschen, in dem die Bedingung vom Lehrer wiedergegeben wird und indem etwas, die Wahrheit, gelernt bzw. erkannt werden kann. Dieses Etwas ist allerdings nichts anderes als die Wahrheit über die eigene Existenz, die Selbsterkenntnis, die Climacus als die Erkenntnis über den göttlichen Funken im einzelnen Menschen beschreibt.

„Wenn ein Mensch [...] im Besitz der Bedingung ist, die Wahrheit zu verstehen, dann denkt er, daß Gott da sei, weil er selbst da ist.“ Und weiter: „Wenn also der Augenblick [Hervorheb. i. Orig.] entscheidende Bedeutung haben soll, und ohne dies sprechen wir ja nur sokratisch, [...], – dann ist der Bruch eingetreten, und der Mensch kann nicht zurückkommen [...].“

In der christlichen Offenbarung erweist sich der Lehrer als liebender Gott, der dem Menschen selbst die Bedingung liefert zu glauben, indem er sich in Jesus Christus, einem Menschen (und im christlichen Glauben eben zugleich Gott selbst) offenbarte. Climacus ist sich der Ungeheuerlichkeit, die darin liegt, bewusst: „Aber lässt das hier Entwickelte sich denken?“ Kann dieses Szenario, die Inkarnation Gottes in Jesus Christus, kann Gott überhaupt mit dem Verstand erfasst und mit der Vernunft in Einklang gebracht werden? Climacus sagt klar Nein und bringt damit das Paradox ins Spiel, denn das Denken versuche an dieser Stelle, etwas festzustellen, was es selbst überhaupt nicht denken könne.

Das Problem: Gottes Unerkennbarkeit

Der Denkende stößt hier also an die Grenzen dessen, was überhaupt gedacht werden kann. Doch solle man nicht schlecht vom Paradox denken, fügt Climacus hinzu, denn das Paradox sei auch die Leidenschaft des Denkers: „Denn das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens, und ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mäßiger Patron.“

So ist es eben das Paradox des Denkers, etwas zu entdecken, was er selbst nicht verstehen kann. Diese Grenze, an die ein ergründen wollender Verstand stößt, fungiert Climacus zufolge sowohl als „Qual der Leidenschaft“, aber auch als ihr „Reizmitte“. Climacus philosophiert also weiter, denn er ist sich klar darüber, dass es zum Wesen der Vernunft gehört, sich immer wieder an diese Grenze heranzutasten und daran abzuarbeiten:

„Aber was ist denn dieses Unbekannte, gegen das der Verstand in seiner paradoxen Leidenschaft anstößt und das sogar die Selbsterkenntnis des Menschen stört? Es ist das Unbekannte. Aber es ist ja doch nicht ein Mensch, soweit er diesen kennt, oder irgendein anderes Ding, das er kennt. So lasst uns also dies Unbekannte den Gott [Hervorheb. i. Orig.] nennen. Das ist bloß ein Name, den wir dafür setzen. Beweisen zu wollen, dass dieses Unbekannte (Gott) da ist, fällt dem Verstand wohl kaum ein. Wenn nämlich Gott nicht da ist, dann ist es dem Verstand unmöglich, das zu beweisen, ist er aber da, dann ist es ja eine Torheit, das beweisen zu wollen.“

Als Beschriftung für das absolute Paradox und damit das Unbekannte wählt er „Gott“ und damit ist auch schon alles gesagt, was der Verstand über diesen Gott sagen kann. Denn alle Versuche, das Unbekannte zu spezifizieren, müssen von Natur aus scheitern. Entweder etwas existiert nicht, dann kann es nicht bewiesen werden, oder etwas existiert, dann kann höchstens bewiesen werden, was existiert, aber nicht, dass es existiert. Climacus erklärt:

„Auf die Art beweise ich nicht, daß ein Stein da ist, sondern daß etwas, das da ist, ein Stein ist. Das Gericht beweist nicht, daß ein Verbrecher da ist, sondern beweist, dass der Angeklagte, der ja da ist, ein Verbrecher ist.“

Können wir nicht wenigstens Gott aus seinen Taten erkennen? Auch hier hält Climacus dagegen:

„[...] aber welches sind denn Gottes Taten? Unmittelbar existieren die Taten gar nicht, aus denen ich sein Dasein beweisen kann. Oder liegt es vielleicht direkt vor der Nase, die Weisheit in der Natur zu sehen oder die Güte und Weisheit in der Weltenlenkung?“

Weder lässt sich aus der Schönheit von Natur und Kosmos unmittelbar auf die Existenz Gottes schließen, noch sind Katastrophen, Not und Kriege Beweise für seine Nichtexistenz.
Gott kann also nicht gedacht werden, geschweige denn bewiesen. Es bleibt die Grenze, dieses „schlechthin Verschiedene“, dieses vollkommen Andere, das sich nicht greifen lässt. Trotzdem gibt es für Climacus die Annäherung an das Unbekannte, indem der Mensch sich diesem Paradox ausliefert, ein Wagnis eingeht und den Sprung in das Vertrauen wagt. Der Einzelne muss sich also vertrauensvoll auf den Glauben einlassen. Wenn Gott nicht nur als Beschriftung und leere Worthülse dienen soll, kann er nur geglaubt, aber nicht gewusst werden. Kierkegaard entwickelte dies, so der Theologe Thorsten Dietz, – unter dem Pseudonym Johannes Climacus – zu einem Zeitpunkt, als er das Mehrheitschristentum der dänischen Staatskirche zunehmend als blutleere Angelegenheit empfand. Denn Christ war man als dänischer Staatsbürger gewissermaßen automatisch und das Christentum seiner Zeit basierte nach Kierkegaards Auffassung auf einer über die Jahre verwässerten Lehre, die mit der wahren Erkenntnis des Einzelnen nichts zu tun hatte.

Der pseudonyme Climacus jedenfalls beschreibt sich in der Unwissenschaftlichen Nachschrift als einen Nicht-Christen, dem es darum geht herauszufinden, wie schwierig es sein muss, ein Christ zu werden. Um die (göttliche) Wahrheit selbst erkennen zu können, braucht es laut Climacus den historischen Moment der Gotteserfahrung und damit die Gabe des Lehrers der erwähnten Bedingung zur Erkenntnis dieser Wahrheit, die nicht von einem Lehrenden, der intellektuelle Hebammendienste von einem Menschen zum anderen leistet, gegeben werden kann. Dieser Moment müsse den Charakter einer Offenbarung für den Einzelnen haben. Damit bekäme der Mensch etwas zu erkennen, was er aus sich heraus nicht erkennen könne. Für den Philosophen und Kierkegaardforscher Richard Purkarthofer ist das Herantragen der Wahrheit an den Menschen, der sich in der Unwahrheit befindet, aber nicht nur mit der Erkenntnis dieser Unwahrheit (Climacus zufolge der Sünde) verbunden, sondern auch mit der Möglichkeit der Befreiung daraus. Die erlösende Erkenntnis der Wahrheit ist die Selbsterkenntnis, genauer die Selbstannahme und eigene Teilhabe am ewigen Bewusstsein. Mit anderen Worten ist es die glaubende Einsicht des Menschen, dass Gott sich in seiner Menschwerdung offenbart hat und damit zugleich im je eigenen menschlichen Selbst als seinem Geschöpf offenbart. Jesus Christus, dem christlichen Glauben nach Mensch und Gott in einem, steht so verstanden für den göttlichen Funken in jedem Menschen. Die Sünde besteht in der Unkenntnis dieser Wahrheit.

Zwei Auswege: Skepsis oder Offenheit

Der Glaube kann als das Gegenteil des Zweifels definiert werden, zumindest definiert Climacus es so. Trotzdem werden viele Gläubige berichten, dass der Zweifel unfreiwillig mit zum Glauben dazugehört. Über die Notwendigkeit, die Möglichkeit und die Freiheit in Bezug auf den Glauben, macht sich Climacus im Zwischenspiel und in der Beilage, zwei eingeschobenen Kapiteln der Philosophischen Brocken, Gedanken. Climacus positioniert sich gegen das seinerzeit vorherrschende Verständnis, die historische Vergangenheit sei so, wie sie war, notwendig gewesen. Sie sei, so Climacus, unveränderbar, ja, allerdings nicht notwendig. Denn es hat doch zu jeder Zeit die Möglichkeit bestanden, dass das Geschehen auch anders hätte Gestalt annehmen können, da die menschliche Freiheit Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hat.

„Die Veränderung des Werdens ist die Wirklichkeit, der Übergang geschieht durch die Freiheit.“ Und weiter: „Alles Werden geschieht durch Freiheit, nicht aus Notwendigkeit, nichts Werdendes wird aus einem Grund, sondern alles aus einer Ursache. Jede Ursache führt zurück zu einer frei wirkenden Ursache.“

Die Geschichte, die ein beweglicher Prozess des Werdens mit verschiedenen möglichen Routen ist, stellt Climacus dann dem Ewigen gegenüber, das nun tatsächlich das Notwendige ist, denn es kann nicht verändert werden, es wird nicht, es verhält sich stets zu sich selbst, immer auf die gleiche Weise und ist immer da.

„Alles, was da wird, beweist gerade durch das Werden, daß es nicht notwendig ist! Denn das Einzige, das nicht werden kann, ist das Notwendige, weil das Notwendige ist [Hervorheb. i. Orig.].“ Und weiter: [...] die Vollkommenheit des Ewigen ist (es), nicht Geschichte zu haben, und es ist das einzige, das da ist und doch absolut nicht Geschichte hat.“

Diese philosophischen Gedankengänge wiederzugeben ist wichtig, weil Climacus in den Philosophischen Brocken darauf hinarbeitet, das Dasein Gottes nicht als Notwendigkeit, wohl aber als denkbare Möglichkeit zu begründen. Notwendige Wahrheiten können aber nur in Bereichen angenommen werden, in denen absolute Gewissheit erreichbar ist, wie zum Beispiel in der abstrakten logischen oder mathematischen Vernunft, nicht jedoch in derjenigen, die sich auf die kontingente Existenz, also all das Endliche, Mögliche, aber nicht Wesensnotwendige bezieht. Die Existenz Gottes ist eine Möglichkeit und kann nur solch eine sein, für die der Einzelne sich entscheiden darf, da an Gott wie auch an seine Menschwerdung zu glauben, ungewiss ist, allerdings ebenso ungewiss wie an die Nichtexistenz Gottes zu glauben, und das Ungewisse ist ja, wie wir gesehen haben, das Gegenteil des Notwendigen. Die Möglichkeit aber (an die Existenz Gottes zu glauben, weil sie in einem Augenblick individuell erfahren wurde), wird durch den Akt des Glauben Wirklichkeit und kann sich durch das Glauben wiederholen, ganz gleich, wie der Einzelne zum Glauben findet oder welche subjektiven oder kulturellen Vorstellungen mit seinem Gottesglauben verknüpft sind.

„Die Möglichkeit, aus der das Mögliche, das das Wirkliche wurde, hervorgegangen ist, begleitet stets das Gewordene und bleibt bei dem Vergangenen, selbst wenn Jahrtausende dazwischen lagen. Sobald der Spätere wiederholt, daß es geworden ist (was er tut, indem er es glaubt), wiederholt er dessen Möglichkeit, gleichgültig, ob hier nun von speziellen Vorstellungen über diese Möglichkeit die Rede sein kann oder nicht.“

Wenn also dem Schüler durch den Lehrer die Bedingung zum Glaubenkönnen zuteilwurde, und der Mensch durch eine Gotteserfahrung im Augenblick nun glauben kann, dann wechselt der Glaube vom Möglichen ins Wirkliche und dadurch vom Nichtsein ins Sein. Wie wir uns erinnern, ist das Besondere am Ewigen, dass es ist, ohne dass es wurde, sich verändert und eine Geschichte hat. Es ist der Glaube an Gott, der diesen als ewig bestimmt: „[...] der Glaube hat es nicht mit dem Wesen zu tun, sondern mit dem Sein, und die Annahme, daß Gott da ist, bestimmt ihn ewig, nicht historisch.“

Das Christentum, so Climacus, ist genau darin einzigartig, dass es ein historisches Geschehen zum Ausgangspunkt des Einzelnen für sein ewiges Bewusstsein erklärt. Dieses unbestreitbare Paradox kann die Vernunft nicht aufgeben, es kann nur bezweifelt oder geglaubt werden.

In den Philosophischen Brocken fokussiert Climacus sich auf den Glauben als Gegenstück zur philosophischen Erkenntnis, die sich auf die denkenden Verstandestätigkeit gründet. Mit dem willentlichen Sprung in den Glauben benennt der Philosoph Noel Adams die Theologie als die Disziplin, die ein Feld betritt, das über das hinausgeht, was die Philosophie bedienen kann. Denn es ist der Verstand in der Philosophie, der an seine Grenze stößt, wenn er dem Paradox begegnet. Climacus zufolge ist aber, genau diese Grenzkollision ergründen zu wollen, auch die höchste Leidenschaft des Verstandes, die letztlich zu seinem eigenen Untergang wird. Die Leidenschaft im Denken will etwas entdecken, was das Denken, und damit die Philosophie, nicht denken kann. Für Climacus ist ein Denker, so Noel Adams, den das Paradoxe umtreibt, der es sucht, ihm begegnet, der die Grenze erkennt und dann sozusagen das Verstehenmüssen beiseitelegt, ohne beleidigt zu sein, dass er keine Lösung gefunden hat, die es nicht gibt, keineswegs in seiner Aufgabe gescheitert.

„Und wie geht nun Gottes Dasein aus dem Beweise hervor? [...] Ist es hier nicht wie mit dem Cartesianischen Taucher [Glaspüppchen, im Zylinder mit Wasser schwimmend, Anm. d. Hrsg.]? Sobald ich die Puppe loslasse, steht sie auf dem Kopf. Sobald ich sie loslasse, ich muss sie also loslassen. So auch mit dem Beweis. Solange ich mich an den Beweis halte [...], kommt das Dasein nicht hervor, wenn auch aus keinem anderen Grund, als daß ich dabei bin, es zu beweisen. Aber indem ich den Beweis loslasse, ist das Dasein da.“

Das Paradox ist zwar ein Ärgernis, weil es sich dem Denken als Stolperstein erweist. Aber es gibt zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren, die in der willentlichen Entscheidung des Einzelnen liegen. Das eine ist die bewusste Zurückhaltung des Skeptikers. Sie folgt antiker Denktradition und bleibt dabei, dass sich das Dasein Gottes nicht beweisen lässt und man sich darum von allen weiteren Schlüssen besser fernhält. Das andere ist die Bereitschaft eines nicht festgelegten Denkens, das Wagnis einzugehen, das, was nicht bewiesen werden kann, als das Mögliche zu glauben. Beides sind keine Erkenntnisakte, sondern Haltungen in der Freiheit der Wahl:

„Glaube und Zweifel sind nicht zwei Arten der Erkenntnis, [...], denn keins von ihnen ist ein Erkenntnisakt, sondern sie sind entgegengesetzte Leidenschaften. [...] Glauben ist Sinn für das Werden, und Zweifel ist Protest gegen jedes Schließen, das hinausgeht über die unmittelbare Wahrnehmung und Erkenntnis.“

Auch Rick Anthony Furtak als Theologe widmet sich in seinem Beitrag Believing in Time. Rethinking Faith and History in Philosophical Fragments, Works of Love, and Repetition dem Streben nach Gewissheit und der damit verbundenen metaphysischen Frage nach der Notwendigkeit. Wie entscheiden sich Menschen für Lebenshaltungen und für Vertrauensweisen? Natürlich ist es die Gewissheit, die es dem Menschen erleichtert, sich auf etwas einzulassen: Wenn ich genau weiß, woran ich bin, ja, dann kann ich vertrauen. Diesen Satz würden wohl viele Menschen unterschreiben. Über die Haltung der Skepsis und ihre Alternative, die Offenheit, hat Furtak Kierkegaard zu Rate gezogen. Climacus beschreibt in den Philosophischen Brocken das Dilemma des Skeptikers, der sich nach Gewissheit sehnt: „Das eigene Dasein zum Beispiel leugnet der Zweifler nicht, aber er schließt nicht, denn er will nicht betrogen werden.“

Dieses Vorgehen bewahrt uns vor Irrtümern, aber es stellt sich die Frage, ob dabei nicht auch Wertvolles verlorengeht. Furtak weist auf den Gedanken Kierkegaards hin, in seiner Schrift Werke der Liebe (1947), wo er schreibt, wir könnten "getäuscht werden, indem wir glauben, was unwahr ist, aber wir werden sicherlich auch getäuscht, indem wir nicht glauben, was wahr ist".

Der Skeptiker schützt sich also gegen die Möglichkeit, über die Wahrheit getäuscht zu werden, und verpasst sie aber vielleicht gerade dadurch. Aber auch dem Stoiker, dessen Ziel es ist, sich von den Höhen und Tiefen der Leidenschaften nicht berühren zu lassen, riskiert, am Wesentlichen vorbeizugehen. Hebt Climacus doch die Bewunderung als die würdige Leidenschaft des Historikers hervor, die dessen „Sinn für das Werden“ und „der Ungewißheit des gewissest Gewordenen“ entspricht.

Glauben bedeutet also, so Furtak, in einem existentiellen Sinn vom Standpunkt der Liebe aus zu sehen und nicht vom Standpunkt des Misstrauens. Die Welt aus einer liebenden Perspektive zu betrachten, beinhaltet eine produktive Offenheit gegenüber Eindrücken und Erfahrungen und ermöglicht es, aus ihnen Bedeutung zu erschließen. Der Preis des Sichverschließens ist dagegen der denkbar Höchste. Furtak verweist auf Kierkegaards Feststellung in Werke der Liebe:

„sich um die Liebe zu betrügen, ist das Furchtbarste, ist ein ewiger Verlust, für den es keine Entschädigung gibt, weder in Zeit noch in Ewigkeit; denn wenn sonst [...] die Rede davon ist, betrogen zu werden in Bezug auf die Liebe, so verhält sich der Betroffene doch zur Liebe, und der Betrug ist nur der, dass sie die war, für die man sie hielt. Aber der sich selbst betrügt [...] schließt sich selbst von der Liebe aus. Es wird auch gesagt, man werde vom Leben oder im Leben betrogen. Der aber, der selbstbetrügerisch sich selbst darum betrog zu leben, sein Verlust ist unersetzlich.“

Aber was hat es mit der Liebe auf sich, die mit Kierkegaards Worten der Kern des Lebens ist? Climacus lokalisiert sie in den Philosophischen Brocken zuerst bei Gott. Wenn wir die göttliche Wahrheit nicht erkennen können, weil wir sie verloren haben, und wenn Gott, dessen Dasein unsere (des Climacus) Hypothese ist, sich angesichts dessen uns mitteilen will, was bewegt ihn dazu, „was anderes als Liebe?“ Die Leidenschaft des menschlichen Verstandes andererseits, die darin besteht, sich selbst ergründen zu wollen, und darin willentlich bis an die Grenze des für ihn Denkbaren vordringt, ohne sich darin selbst zu verstehen, ist für Climacus im Grunde ein Paradox der Liebe. Er führt es so aus:

„Der Mensch lebt ungestört in sich selbst, da erwacht das Paradox der Liebe zu einem andern, einem Entbehrten. (Selbstliebe liegt aller Liebe zugrunde oder geht in ihr zugrunde [...]. Wie nun der Liebende durch dieses Paradox der Liebe verändert wird, so dass er sich beinahe selbst nicht mehr kennt [...], so wirkt jenes geahnte Paradox des Verstandes wieder zurück auf den Menschen und seine Selbsterkenntnis, so daß er, der sich selber zu kennen meinte, nun nicht länger mit Bestimmtheit weiß, er nicht vielleicht ein noch seltsamer zusammengesetztes Tier als Typhon [Ungeheuer der griech. Mythologie, J.S.] ist oder ob er in seinem Wesen einen milderen und göttlicheren Teil hat.“

Climacus vergleicht also die Leidenschaft des Verstandes und das unvermeidliche Scheitern dabei, das Undenkbare denken zu wollen, das ihn zu seiner eigenen Kapitulation führt, mit der Selbstliebe, die in der Liebe aufgeht und sich darin auf durchaus verwirrende Weise selbst verändert. Aber wie ist dieser Sprung über den Abgrund, der Augenblick, der den Unterschied macht und der darin besteht, das ganz und gar Ungewisse zu glauben, vorzustellen? Auch hier kommt die Liebe ins Spiel bei Climacus. Denn er vergleicht diesen Moment mit der leidenschaftlichen Verschmelzung, in der sich Selbstliebe und Liebe im Einverständnis befinden, in der die eine sich in der anderen auflöst, um zu etwas Vollkommenerem zu werden. Das Paradox löst sich also, wenn der beharrende Verstand beiseitetritt und der Mensch sich empfänglich macht für das absolut Verschiedene, das er als Teil seiner selbst begreift. Letzteres entwickelt der pseudonyme Climacus explizit allerdings erst in der Abschließenden unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846). Es ist ein für Kierkegaards Werk zentraler Gedanke, dass der Mensch an sich aus dem Endlichen und dem Unendlichen zusammengesetzt ist und in seiner unabgeschlossenen Existenz beständig danach strebt, die Ganzheit dieser beiden disparaten Hälften zu realisieren.

Der Mensch, der in der emotionalen Offenheit eine Erfahrung macht, die das Unbekannte in ihm aufruft, kann diese Erfahrung zu seiner Welt- und Selbstdeutung heranziehen. Climacus regt seine Leser dazu an, darüber nachzudenken, wie eine emotionale Art der Erkenntnis, die er verteidigen möchte, begründet werden könnte. Diese Epistemologie der Gotteserfahrung steht im Widerspruch zur Vorstellung von Wahrheit als etwas, das sich rein denkerisch der Vernunft erschließt. Furtak, der sich speziell auf die Epistemologie der Liebe fokussiert, verteidigt diese als Legitimität einer emotionalen Weise der Erkenntnis aus der Position der Subjektivität und damit aus der kontingenten Welterfahrung jeder und jedes Einzelnen.

Gott als Emotion. Zur Epistemologie der religiösen Erfahrung

Die Religiöse Epistemologie (religious epistemology) beschäftigt sich mit der erkenntnistheoretischen Frage nach Wahrheits- und Rechtfertigungsbedingungen menschlicher Erkenntnis im Bereich der religiösen Überzeugungen. In dieser Disziplin wird die Frage nach einem gerechtfertigten und verlässlichen Wissen bei religiösen Überzeugungen, dem Glauben also, aufgeworfen und versucht zu beantworten. So werden etwa Kriterien definiert für eine zulässige Rechtfertigung und geschaut, ob diese nur für den Bereich der religiösen Überzeugungen oder aber für alle Arten von Überzeugungen gelten würden. Der Theologe Hartmut von Sass plädiert in seinem Aufsatz Von der Begründung zur Explikation. Eine Revision religiöser Epistemologie dafür, weniger eine rationale Begründung der Glaubensinhalte zu fokussieren, sondern mehr in den Mittelpunkt zu stellen, wie religiös Glaubende die Wirklichkeit (anders) wahrnehmen. In gewisser Ähnlichkeit zu Kierkegaards Climacus bezieht sich Sass darauf, dass vereinheitlichte und vorausgesetzte Hintergrundannahmen für eine religiöse Erkenntnislehre den Einzelnen nicht oder nicht ausreichend überzeugen können. Die religious epistemology sei bislang stets in einem analytischen Kontext beheimatet gewesen, in dem die Begründbarkeit und Rationalität der Glaubensinhalte im Vordergrund standen, wohingegen die existentielle Lebensorientierung und der Bereich der Emotionen keinen legitimen Platz erhalten haben. Eine Doktrin, in der entweder ein bestimmter Erkenntniswert bereits als wahr vorausgesetzt werde oder nach der etwas nur dann geglaubt werden könne, wenn genügend Evidenz dafür bestünde, nennt Sass nicht nur problematisch bzw. falsch, sondern auch unpraktikabel und selbstwidersprüchlich. Sehr wohl könne an etwas geglaubt werden (ohne dabei irrational zu werden), auch wenn dafür keine eindeutigen Beweise vorlägen, wie etwa, wenn an eine gute Zukunft geglaubt würde und über den eigenen, nötigen Handlungsspielraum hinaus optimistisch in die Zukunft geblickt würde. Es wird deutlich, dass an etwas glauben zu können, nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt ist, und dass das Glauben an etwas vor allem eine Haltung des Vertrauens betont. Wie bereits ausgeführt, ist auch Climacus These, dass der Glaube nicht gelehrt werden könne (da der einzige Lehrer Gott sei). Vom Glauben kann zwar erzählt und Glaubenserfahrungen können verkündet werden, aber, das ist das Ergebnis aus den Überlegungen des Climacus, der einzelne Mensch kann nur mit seiner offenen Haltung die Bedingung von Gott selbst zum Glauben erhalten, in Form einer eigenen Gotteserfahrung.

Auch Sass akzentuiert die Haltung des Menschen als ausschlaggebend für den religiösen Glauben und gleichzeitig für die Erkenntnis.  Wie nimmt also der Glaubende die Wirklichkeit wahr und worin liegt der Unterschied zu anderen Weisen von der Realität zu sprechen? Mit welch anderen Augen sieht der Mensch mit einer bestimmten Haltung oder einer bestimmten Vorprägung die Realität um sich herum? Sass zieht dazu das Beispiel einer Kunstbetrachtung heran. Ein Vertreter des Auktionshauses Sotheby‘s, ein gewöhnlicher Kunstliebhaber und eine Chemikerin, sie alle drei würden ein vor ihnen hängendes Gemälde aus einer jeweils anderen Perspektive beschreiben. Der Eine würde das Monetäre, der Andere das Evaluierende, die Dritte das Naturwissenschaftliche priorisieren. Die jeweiligen Voraussetzungen richten die Beschreibung unterschiedlich aus und der jeweils andere Blickwinkel lässt zu anderen Schlüssen gelangen. Auf die Fragestellung übertragen bedeutet das, dass der glaubende Blick auf die Welt keinen anderen Gegenstand, sondern einen anderen Zugang zu diesem Gegenstand hat. Sass führt im Folgenden den Begriff des Glaubens als Haltung ein, die weder den Inhalt noch den Bezug zu einem Adressaten betont, sondern die Weise bezeichnet, in welcher Tätigkeiten oder eben eine Lebensführung glaubend oder im Glauben durchgeführt werden. Der Glauben als Nomen (Glauben) mit definierten Inhalten spiele bei diesem Ansatz eine sekundäre Rolle. Auch der Glauben als Verb (glauben an), als personal ausgerichtete Tätigkeit ist zweitrangig, stattdessen wird der Glauben als Adverb (glaubend) betont, nämlich in seiner modalen Näherbestimmung, glaubend oder im Glauben zu agieren. Hierbei handelt es sich demnach nicht um neue, separate Akte, sondern um ein qualifizierendes Wie dieser Akte. Aus dieser Perspektive geht es im Glauben an Gott also nicht primär um diesen oder jenen Inhalt, vielmehr ist der religiöse Glaube eine bestimmte Weise, das gesamte Leben zu führen.

Zu den zentralen, klassischen Näherbestimmungen des Glaubens gehört die Hoffnung – bezeichnet man sie nun als Haltung, Disposition oder Emotion –, die das Leben entscheidend beeinflusst und ohne die eine menschliche Existenz schwer vorstellbar wäre. Die Hoffnung gestaltet das Leben des Menschen, sie prägt es auf eine bestimmte Weise, genauso wie ein Glaubend-durch-das-Leben-Gehen das Tun und Erleben des Einzelnen in vielfacher Hinsicht qualifiziert. So konkretisieren Emotionen wie Hoffnung, Vertrauen, Mitleid, Demut oder Dankbarkeit den Glauben. Worin Sass u.a. an die Theologie von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) anschließt, der die Religion als die „Anschauung“ des Universums bestimmt, die er in „Gefühlen“, vergleichbar mit den eben aufgeführten Emotionen, manifestiert sieht.

Wer hofft, wünscht sich etwas, das weder notwendig ist, noch unmöglich, sondern im Bereich des Möglichen liegt, was uns die Daseinsbestimmung Gottes in Kierkegaards Philosophischen Brocken in Erinnerung ruft. Die religiöse Hoffnung als eine Vollzugsweise des Glaubens hofft auf das Wirken Gottes in der Welt. Der Glaubende, der auf die stärkende Gegenwart Gottes hofft, erfährt die Stärkung Gottes durch eben diese Hoffnung, die Kraft schöpfen lässt und das Handeln voranträgt. Gottes Wirklichkeit als sein Wirken am Menschen ist mit Luther die „reinste Hoffnung“, weil eben darin das Erhoffte und der Hoffende eins werden. Sie, die Hoffnung, drängt aber keineswegs zur Tatenlosigkeit, sondern wenn Hoffnung auf Gott mit Sören Kierkegaard ein „Sinn für die Möglichkeit des Guten“ ist, öffnet sie den Raum der kontingenten Wirklichkeit auch für das Freiheitshandeln des Menschen. So kann, am Beispiel der Hoffnung ausgeführt, der Glaube emotional gefärbt sein, er kann durch Emotionen motiviert werden und die Wirklichkeit Gottes kann als Emotion erfahren werden. Woraus sich sogar die Möglichkeit erschlösse, Gott selbst als Emotion zu denken.

Fazit

Die in der Arbeit vorgelegten Ausgangspunkte des gedanklichen Vermächtnisses Kierkegaards wie auch die darüber hinaus gehenden Ansätze in ein Denken des 21. Jahrhunderts sollen in der Frage „Wie soll das Glauben (heute noch) gehen?“ als Vorschlag dienen. Kierkegaard wählt in seinen Philosophischen Brocken das Pseudonym Johannes Climacus, mit dem er in die Rolle des entschieden vernunftgeleiteten und tief in der antiken Philosophie verankerten Denkers schlüpft, und kann sich nun auf diesem festen und glaubwürdigen Fundament der strittigen Frage nach der Begründung des Glaubens widmen. Als Einrede gegen die hegelianische Theologie, die mit Hans Lassen Martensen eine zunehmend einflussreiche Stimme erhalten hatte, hält er fest, dass es in Bezug auf den Glauben keine historische Sicherheit gibt, weder für die Zeitgenossen Christi noch in der Gegenwart, vielmehr bedarf es der individuellen Glaubenserfahrung des Einzelnen. Der Glaube kann auch nicht vom einen zum anderen weitergegeben werden, er ist auch nicht anerziehbar und nicht tradierbar, sondern ganz und gar auf die individuelle, subjektive Erfahrung angewiesen. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus als historisches Faktum ist dem Gewordenen zuzurechnen und damit der Kontingenz eines unendlich großen Möglichkeitsraums. Gott kann nicht mit dem Verstand erfasst, wohl aber als denkbare Möglichkeit begründet werden, als Gewissheit jedoch kann Gott nur geglaubt werden. Der Mensch, der sich im Ergründenwollen mit dem schlicht Undenkbaren konfrontiert sieht, kann das Paradox nur lösen, indem er in die Ungewissheit einwilligt und glaubt. Die Möglichkeit, an die Existenz Gottes zu glauben, weil sie in einem Augenblick individuell erfahren wurde, gelangt durch den Akt des Glauben zur Wirklichkeit. Gott ist hier kein Fürst, der die Welt lenkt und regiert, wohl aber ein Lehrer. In der Rolle des Climacus argumentiert Kierkegaard mit der Freiheit des Menschen und seiner Willensentscheidung, die es ihm erlaubt, angesichts der Unerkennbarkeit Gottes selbst die Wahl zu treffen zwischen der Haltung des Zweifelns und der des Glaubens.

Eine nichtevidenzgestützte Erkenntnisweise der Wirklichkeit Gottes kann durch die Emotionen spezifiziert werden. Dieser Zugang erlaubt es, Glauben als Haltung gegenüber der Welt zu beschreiben, sei es als Haltung „der Liebe“, mit der sich der Möglichkeitsraum in Wirklichkeit positiv öffnet, als Haltung „der Hoffnung“, die unsere Zukunftserwartung grundlegend betrifft, oder in weiteren Glaubenshaltungen, die bereits in der Religionsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts programmatisch zum Tragen kamen. Die religious epistemology, die bislang vor allem in einem analytischen oder rationalen Kontext beheimatet gewesen ist, bekommt mit der Thematik der Emotionen und deren individueller Erfahrbarkeit die Möglichkeit zur Entdeckung weiterer, bislang wenig beachteter und wertgeschätzter Erkenntniswerte. Eine solche Epistemologie der Gotteserfahrung begibt sich damit in Widerspruch zur Vorstellung von Wahrheit als etwas, das sich rein denkerisch der Vernunft erschließt.

Kierkegaard hat mit seinen Werken die emotionalen Erkenntnisdebatte in Glaubensfragen bereits im 19. Jahrhundert mit großen Schritten vorangetrieben. Indem er dabei seinen Fokus auf die individuelle Wirklichkeit des Einzelnen richtete und es ihm darum ging zu klären, wie subjektiv ein Glauben möglich sei, also unter welchen Fallstricken und mit welchem willentlichen Zutun, bezogen auf die vorbereitende Einstellung, treten die Konsequenzen eines zweifelnd und eines glaubend gelebten Lebensvollzugs vor Augen. Die Alternative einer Lebenshaltung emotionaler Offenheit oder Verschlossenheit erweist sich darin als zentral.

Kierkegaards vordringliches Anliegen ist die Selbsterkenntnis, die sich ereignen kann, wenn die verlorengegangene Wahrheit über die eigene Existenz im Moment einer Gotteserfahrung zugänglich wird, indem sich der Mensch als gottgeschaffen erkennt. Ermöglicht diese doch eine Selbstanerkennung und das Bewusstsein eines gerechtfertigten Platzes in der Welt für den einzelnen Menschen. Diese Wahrheitserkenntnis schränkt Kierkegaard nicht ein, indem er auf (Glaubens-)Vorstellungen im Einzelnen verweist oder subjektive und kulturelle Eindrücke näher definiert, – sie ist für alle da. Die Erkenntnis der eigenen Wahrheit, die sich paradoxerweise nicht denkerisch erschließen lässt, sondern in einem glücklichen Moment mit der Bedingung des Lehrers erkennen lässt, ermöglicht es dem Menschen von nun an, glaubend das eigene Leben zu bestreiten. Hierin wird das Potential einer emotionalen Erkenntnismöglichkeit der göttlichen Wahrheit für den individuellen Glaubensvollzug erkennbar. Die Konsequenz einer glaubend, hoffend, liebend oder vertrauend gelebten Existenz dürfte sich für den Einzelnen mit einem großen Zugewinn an Lebenssicherheit und Lebensbewältigung erschließen. Dass aber ein derart ungewisses Unterfangen eine willentliche Bereitschaft zur Berührbarkeit erforderlich macht, ebenso wie einer hartnäckigen Gewohnheit des Wegrationalisierens entgegenzutreten, und den Mut zur Verletzlichkeit beinhaltet, darf ebenfalls bedacht werden.

Karla Johanna Schaeffer: Wie soll das Glauben gehen? Hinweise aus Sören Kierkegaards „Philosophischen Brocken“,

Hausarbeit, Universität Luzern, HS 2022.


 
Ausgewählte Literaturangaben:
 

Kierkegaard, Sören: Philosophische Brocken, hrsg. v. Liselotte Richter, Neuausgabe, Hamburg 2016.

Kierkegaard, Sören: Werke der Liebe, Auswahlübersetzung m. Einleitung u. Kommentar v. Rainer

Wimmer, Stuttgart 2004.

Breul, Martin/ Viertbauer, Klaus: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Der Glaube und seine Gründe. Neue Beiträge zur Religiösen Epistemologie, Tübingen 2022, S. 1–7.

Furtak, Rick Anthony: Believing in Time. Rethinking Faith and History in Philosophical Fragments, Works of Love, and Repetition, in: Kierkegaard Studies Yearbook 9 (2004), S.100–116.

Liessmann, Konrad Paul: Sören Kierkegaard zur Einführung, Hamburg 21999. Niewöhner, Friedrich: Klassiker der Religionsphilosophie. Von Platon bis Kierkegaard,

München1995.
Purkarthofer, Richard: Kierkegaard, Stuttgart 22014.

Sass, Hartmut von: Glaube und Gefühl. Zu einer Theologie der Emotionen, Mitschnitt eines Vortrags in der Alten Pfarrkirche Lichtenberg am 25.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=peY7EjBuubI (letzter Aufruf: 27.01.2023).

Sass, Hartmut von: Von der Begründung zur Explikation. Eine Revision religiöse Epistemologie, in: Martin Breul/ Klaus Viertbauer (Hg.): Der Glaube und seine Gründe. Neue Beiträge zur Religiösen Epistemologie, Tübingen 2022, S. 115–140.

 

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