Exzellent denken
Epistemische Tugenden und die Rolle der Emotionen
Welche Tragkraft können intellektuelle Tugenden für den Einzelnen und sein Leben, aber auch für die Gemeinschaft enthalten und welche Rolle spielen Emotionen bei ihrer Kultivierung? In der folgenden Arbeit soll die junge Disziplin der Tugendepistemologie (Virtue Epistemology) beleuchtet werden im Hinblick auf die Bedeutung von intellektuellen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften sowie darauf bezogene Sozialisierungserfahrungen für die Erkenntnisgewinnung von Menschen.
Verlässliches Wissen scheint im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund von Fake News und undurchschaubaren Algorithmen und mit dem V orgeschmack auf weitreichende KI-generierte Informationsflüsse keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Der US-amerikanische Philosoph Edmund Gettier kam allerdings schon 1963 in seinem Aufsatz Is Justified True Belief Knowledge? zu dem Schluss, dass eine rein formale Logik und das bloße, rationale Verknüpfen von Fakten noch kein verlässliches Wissen generiert. Worin besteht also die Fähigkeit, ein verantwortungsbewusst und „exzellent“ denkender Mensch zu sein in dem Sinne, dass das Denken zu verlässlichen Schlüssen führt (Heather Battaly). Wie formt diese Fähigkeit sich aus und wie können Fehlurteile, die von persönlichen Bias-Effekten herrühren, vermieden werden? Ich möchte zunächst die Disziplin der Tugendepistemologie vorstellen, ihren Anspruch formulieren und herausarbeiten, welche Bausteine die Tugenderkenntnistheorie für eine belastbare Erkenntnis über eigene Denkstrukturen, Sozialisierung und entwickelte Weltsicht(en) bereithält. Es werden verschiedene Definitionsmöglichkeiten epistemischer Tugenden aufgezeigt und dargestellt, wie die sogenannten Reliabilisten und Responsabilisten intellektuelle Tugenden unterschiedlich kategorisieren und welchen Platz der Personalismus in dieser Konstellation einnimmt. Im nächsten Schritt soll es um die Rolle der Emotionen gehen und untersucht werden, wie die emotionale Gestimmtheit das Blickfeld prägt oder zumindest rahmt. Hier geht es darum aufzuzeigen, welch konstruktives Motivationselement, aber auch welche potentiell beschränkenden Wirkungen die Emotionen bei der Entwicklung von intellektuellen Tugenden darstellen. Schließlich sollen die beiden Konzepte der Vulnerabilität, bezugnehmend auf den Beitrag der Theologin Heike Springhart, und der Natalität, anschließend an die Philosophin Hannah Arendt, betrachtet und ihr spezifischer Beitrag aus dem Blickwinkel einer theologisch begründeten Anthropologie zu den Fragestellungen der Tugendepistemologie vorgestellt werden.
Ich möchte in dieser Arbeit die These belegen, dass das Kultivieren von intellektuellen Tugenden wie der Offenheit, der Urteilszurückhaltung und des Verstehenwollens unter Miteinbeziehen der emotionalen Motivationsaspekte im Bewusstsein der absoluten und relativen Verwundbarkeit jedes einzelnen Erkenntnissubjekts und der gleichzeitigen prinzipiellen Gestaltungsoffenheit der menschlichen Existenz und der Welt eine starke Tragkraft für einen sinngebenden Lebensvollzug und das gemeinschaftliche, solidarische Bewohnen und Bewahren unseres Planeten bergen.
2. Virtue Epistemology – eine Begriffsbestimmung
Der Begriff virtue epistemology, wörtlich Tugenderkenntnistheorie, kann als Theorie der epistemischen Tugend oder synonym der intellektuellen Tugend verstanden werden. Erstmalig 1980 von dem Philosophen Ernest Sosa in seinem Aufsatz The Raft and the Pyramid verwendet, wurde er seitdem vielfach aufgegriffen, um „überzeugungs“basierte Theorien und ihre Rechtfertigungsansprüche zu problematisieren und ihnen „tugend“basierte Lösungen für die Definition eines gerechtfertigten und verlässlichen Wissen gegenüberzustellen. Ein weiterer wichtiger und früher Beitrag stammte von Philosophin Linda Zagzebski, die 1996 argumentierte, dass der Ansatz von Sosa vielversprechend sei, aber nicht weit genug gehe. Es käme darauf an, die zentrale Rolle von intellektuellen Tugenden wie Verantwortung oder Gewissenhaftigkeit, aber auch die sozialen und entwicklungsbedingten Grundlagen solcher Tugenden zu identifizieren und darüberhinaus die wichtigen Beziehungen zwischen intellektuellen und ethischen Tugenden zu bestimmen. Die Tugendepistemologie hat sich als Teildisziplin der Erkenntnistheorie, die sich stetig weiter entfaltet, zunehmend etabliert. Im Mittelpunkt stehen hier die personellen Fähigkeiten, Eigenschaften und Tüchtigkeiten, die zu einem verantwortungsbewussten Erkenntnisgewinn und einem zuverlässigen Urteilsvermögen verhelfen, aber auch die personellen Fehldispositionen, die zur Erkenntnisverzerrung führen können. Die Erkenntnisgewinnung von Individuen und Gemeinschaften sind dabei der Hauptfokus der epistemischen Bewertung, wobei der Schwerpunkt auf den intellektuellen Tugenden und Untugenden liegt, die in der einzelnen Person verkörpert sind, aber auch in sozialen Gemeinschaften zum Ausdruck gebracht werden. So sind es intellektuelle Tugenden, die dem Menschen zu einer aufgeschlossenen Bewertung seiner Umwelt verhelfen und für einen gerechtfertigten Wissensanspruch mit einer umfassenden Perspektive sorgen. Die Tugendepistemologie und die Tugendethik weisen Übereinstimmungen auf, auch wenn es sich um unterschiedliche Disziplinen handelt. Die Tugendethik richtet das Augenmerk auf die moralische Komponente einer Handlung im Hinblick auf die Motivationen des Handelnden, beispielsweise ob sie aus Güte oder Bosheit resultiert. Die Tugendepistemologie nimmt die Eigenschaften einer kognitiven Leistung anhand der Eigenschaften des Erkennenden in den Blick, beispielsweise ob diese kognitive Leistung in Eile erfolgt ist oder unter hoher Aufmerksamkeit, ob sie etwa aus gutem Sehvermögen resultiert oder mangelndes Unterscheidungsvermögen erkennen lässt. So sind für die Tugendethik also grundsätzlich moralische Merkmale die relevanten Eigenschaften, für Tugendepistemologie sind es die intellektuellen Merkmale. Gleichwohl können moralisch- motivationale Komponenten keineswegs nur Handlungen bestimmen. Als personale Voraussetzungen haben sie, wie sich zeigen wird, auch Auswirkungen auf kognitive Leistungen.
2.1 Aristoteles Nikomachische Ethik und das Gettier-Problem
Der antike Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) betrachtete den Menschen als Vernunftwesen. In der Ausbildung und Vervollkommnung der Verstandestätigkeit sah er das höchste Ziel des Menschen, darin besteht seine Tugend und letztlich der Weg zu seiner Glückseligkeit. Im Sechsten Buch der Nikomachischen Ethik wendet sich Aristoteles nach der Beschäftigung mit den ethischen Tugenden den „dianoetischen“ Tugenden, also den V erstandestugenden, im Einzelnen zu. Sie beschreiben gewissermaßen die Bestform intellektueller Tugend. Die Verstandestugenden sind es nach Aristoteles, die den Menschen zu einem Handeln befähigen, das zum Guten dient. Dabei stellt sich die Frage, ob die Tugend – und damit das Glück – überhaupt im Wirkungsbereich menschlicher Bemühungen liegt oder ob die Natur die guten Voraussetzungen dafür dem Menschen vielleicht schon mitgegeben haben muss. Letzteres wird zumindest in Bezug auf die „menschlichen Angelegenheiten“, bei denen das Wollen, Entscheiden und Tätigwerden des Einzelnen eine Rolle spielt, eindeutig mit Nein beantwortet. Denn nach dem Verständnis des Aristoteles ist in einer demokratischen Gesellschaft das Glück, insofern es auf der rechten Unterweisung durch Eltern, Lehrer oder Philosophen und der eigenen Bemühung des Menschen beruht, für alle zugänglich. Es sei denn, dass der einzelne Mensch, was die Tugend betrifft, „gleichsam verstümmelt“ ist und sich der Tugend gegenüber und damit dem Glück aktiv verschließt. Als die fünf dianoetischen Tugenden führt Aristoteles Kunst (τέχνη), Wissenschaft (ἐπιστήμη), Klugheit (φρόνησισ), Weisheit (σοφία) und Verstand (νοῦϛ) an. Ist „die Kunst [...] ein Habitus, etwas mit wahrer Vernunft hervorzubringen“, so ist „die Klugheit ein untrüglicher, vernünftiger Habitus des Handelns [...] in Dingen, die die menschlichen Güter betreffen.“ Die Kunst, etwas herzustellen, und die Klugheit im Handeln und Bewirken beschäftigen sich mit dem Kontingenten, also mit den Dingen, die nicht von Natur aus festgelegt sind, sondern so oder auch anders sein könnten. Hier wird gestaltet und gehandelt. Die Wissenschaft dagegen beschäftigt sich mit der Erfassung und Begründung des Allgemeinen, Notwendigen und Unabänderlichen, ihr Habitus ist der des Demonstrierens, wobei der Intellekt oder Verstand es ist, der die letzten Gründe und obersten Prinzipien erfasst. Hier wird Wissen generiert und begründet dargelegt. Die Weisheit ist es schließlich, die, indem sie Wissenschaft und Verstand in sich vereint, ihrer Natur nach die „allerehrwürdigsten“ Dinge zu erfassen und überblicken vermag. Allerdings, so merkt Aristoteles an, würde wohl niemand einen weisen Philosophen, der sich ganz der spekulativ-theoretischen Betrachtung der Welt verschrieben hat, als klug bezeichnen. Denn was die praktische Vernunft im Bereich der menschlichen Angelegenheiten anbetrifft, würde dieser wohl scheitern, weil sein Denken zwar die weitreichendsten und umfassendsten Fragen zu beantworten sucht, aber sich nicht auf die Herausforderungen der täglichen Daseinsbewältigung richtet. Für die praktische Philosophie aber, die danach fragt, wie durch Handeln das Gute realisiert wird, ist die dianoetische Tugend der Klugheit von zentraler Bedeutung. Ihr widmet Aristoteles mehr als die Hälfte des Sechsten Buches der Nikomachischen Ethik. Die Klugheit hat es grundsätzlich mit Problemen der irdischen menschlichen Existenz zu tun, die durch Überlegung und Abwägung gelöst werden können. Gut überlegt wurde dann, wenn durch Nachdenken und dem daraus folgendem Handeln das Bestmögliche erreicht wurde. Die Tugend der Klugheit bezieht sich sowohl auf die eigene Lebensführung, als auch auf verantwortliche Rollen in der demokratischen Gesellschaft, etwa in der Wirtschaft, der Politik oder im Rechtswesen. Worin besteht nun die Klugheit im Einzelnen nach Aristoteles? Um klug überlegen und handeln zu können, braucht es Kenntnis im Allgemeinen und im Besonderen, es braucht also Erfahrung und Zeit, sie zu erwerben. Die Verstandestugend der Klugheit unterscheidet sich von der Wissenschaft, denn sie kennt die Lösungen nicht schon durch ihr allgemeines Wissen und Verständnis im Voraus, sondern sie sucht sie überlegend und abwägend in der jeweiligen konkreten Problemlage. Hier kommt die Wohlberatenheit ins Spiel. Sie umfasst das Sichberaten und Überlegen und hat bereits den guten Ausgang vor Augen. Sie ist also eine Richtigbewertung des klugen Handelns einer Person aus der Außenperspektive. Neben der Wohlberatenheit, die darin besteht, dass jemand nach Rat und Überlegung die richtigen Schritte unternimmt, sind auch Verständigkeit und Unterscheidung von Bedeutung. Damit bezieht sich Aristoteles auf die Urteilskraft als Bestandteil der Klugheit. Hier geht es darum, dasjenige, worüber man zweifeln könnte und sich dennoch eine Vorstellung machen muss, das Problem also, zu verstehen und für dieses Problem unterscheiden zu können, was zu seiner Lösung eine angemessene und was eine nicht angemessene Handlungsentscheidung wäre. Ebenso wie für die theoretisierende Weisheit, bedarf es auch für die auf die Praxis hin ausgerichtete Klugheit des Verstandes als natürlicher Anlage, die es zu entwickeln gilt. Schließlich beinhaltet die Tugend der Klugheit auch noch die Geschicklichkeit, die darin besteht, schrittweise das zu erreichen, was dem gesetzten Ziel entspricht. Ob nun unter den genannten Voraussetzungen von tatsächlicher Klugheit oder nur von Schläue und gar Gerissenheit die Rede sein kann, hat eine weitere grundsätzliche Bedingung, die Aristoteles am Schluss hervorhebt. Es ist unmöglich klug zu sein, ohne moralisch tugendhaft zu sein. Entscheidend ist es, Ziele zu verfolgen, die zum Guten führen. Ebenso unmöglich ist es, moralisch tugendhaft zu sein, ohne klug zu sein. Denn es ist die Klugheit, die die Mittel zur Verwirklichung der guten Ziele bereithält und willentlich danach handelt.
Während bei Aristoteles der Frage nachgegangen wurde, welche Verstandestugenden die Vorrausetzung für die Erkenntnis des ethisch Richtigen und das daraus resultierende Handeln bilden, setzte das „Gettier-Problem“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts an einem anderen Aspekt der intellektuellen Tätigkeit an, der die Erkenntnistheorie bis dato beschäftigt. Der Vorgang des Erkenntnisgewinns wurde einer Überprüfung unterzogen und danach gefragt, ob – im vermeintlichen Rückgriff auf Schriften Platons – die Beschreibung von Wissen als gerechtfertigte und wahre Meinung (Überzeugung) weiterhin als gültig betrachtet werden kann. Der US-amerikanische Philosoph Edmund Gettier verfasste 1963 einen nur dreiseitigen Aufsatz mit dem Titel Is Justified True Belief Knowledge?, um den unvollständigen Erkenntnisgewinn aus einem rein beschreibenden Wissen aufzuzeigen. Anhand von zwei Fallbeispielen wiederlegte Gettier die bis dahin gültige Auffassung, dass Wissen gleichbedeutend mit gerechtfertigter, wahrer Meinung sei (JTB - Justified True Belief). Er zeigte auf, dass es Fälle gibt, in denen Menschen eine aufgrund logischer Verknüpfungen gerechtfertigte, wahrhaftige Überzeugung bezüglich eines Sachverhalts haben können, die sich als zufällig richtig erweist, aber trotzdem über kein wirkliches Wissen zum Sachverhalt verfügen, weil sich die Gründe für die Überzeugung, obwohl sie logisch aneinandergereiht die Überzeugung zu rechtfertigen scheinen, in der Realität nicht bewahrheiten. Sei es beispielsweise, dass die einzelnen Argumente in keinem schlüssigen Verhältnis zueinanderstehen, oder dass von falschen Voraussetzungen ausgegangen wurde, so dass die Überzeugung sich zwar bestätigte, aber nicht die Überzeugungsgrundlage, da sie kein Wissen über den tatsächlichen Sachverhalt beinhaltete.
Ein Beispiel für das Gettier-Problem ist etwa folgende Situation: Stellen wir uns vor, wir sind an einem heißen Tag unterwegs auf der Suche nach Wasser. Plötzlich sehen wir Wasser, zumindest glauben wir das. Was wir in Wirklichkeit sehen, ist kein Wasser, sondern eine Fata Morgana. Aber als wir die Stelle erreichen, haben wir Glück und finden Wasser genau dort unter einem Felsen. Können wir sagen, dass wir wirklich gewusst haben, dass da Wasser ist? Die Antwort ist offenbar Nein, denn wir hatten nur Glück. Mit Gettiers Einwurf stellte sich die Frage, wie die klassische Analyse des Wissens (Justified True Belief – Wissen als wahre, begründete Überzeugung.) überarbeitet werden könnte, sodass Fälle zufällig wahrer, gerechtfertigter Überzeugung, die kein Wissen darstellen, davon ausgeschlossen wären. Es entwickelte sich im Anschluss daran eine umfangreiche und noch andauernde Debatte, die zu verschiedenen Vorschlägen führte, von der Suche nach weiteren definitorischen Bedingungen des Wissens (darunter David Armstrong 1973, Alwin Goldman 1976) bis hin zum Rückgriff auf Ludwig Wittgensteins Vorschlag, Wissen als alltagssprachlichen Begriff ohne scharfe Grenzen zu betrachten. In der Frage wie Wissen zu definieren sei, gibt es bislang keine Einigkeit. Als einflussreich erwies sich in jüngerer Zeit die These von Timothy Williamson (2000), dass Wissen sich zwar derzeit nicht mit Hilfe von Begriffen eindeutig beschreiben lässt, aber dennoch zum Ausgangspunkt für andere erkenntnistheoretische Bemühungen genommen werden kann. Die Tugendepistemologie bezieht sich mit ihren Lösungsvorschlägen zum Gettier-Problem auf eben diese Frage, die die Erkenntnistheorie bis ins 21. Jahrhunderts beschäftigt, und schwenkt dabei den Fokus weg von der Definition des Wissens hin zu den Voraussetzungen, die das Wissen bedingen.
2.2. Reliabilists und Responsabilists: angeborene vs. erworbene Tugenden
Während die Tugenderkenntnistheorie sich einerseits weiterhin mit Themen befasst, die Teil ihres ursprünglichen Anstoßes waren wie etwa das Gettier-Problem, bringt sie auch eine Reihe eigener, neuer Forschungsthemen hervor. Dazu gehören die Analyse der einzelnen epistemischen Tugenden einschließlich des Sozialisierungsaspekts, die Leistungstheorie, welche Wissen als eine Art der Leistung beschreibt, die auf die Ausübung kognitiver Tugenden zurückzuführen ist, ebensowie Theorien über die aktive Kultivierung von intellektuellen Tugenden wie z.B. dem Verstehenwollen als Erkenntniszugang, die Lasterepistemologie als Gegenstück zur Tugendepistemologie sowie die Erforschung intellektueller Tugenden von Gruppen, Gemeinschaften und Institutionen. Die Philosophin und Tugendepistemiologin Heather Battaly beschreibt den Anspruch der Tugenderkenntnistheorie dahingehend, dass epistemische bzw. intellektuelle Tugenden Eigenschaften sind, die Menschen zu „exzellenten“ Denkern machen. Grundlegend ist natürlich die Frage: Was ist eine intellektuelle Tugend? Die Tugendepistemologie verfolgt verschiedene Ansätze der Bestimmung und Charakterisierung von intellektuellen oder epistemischen Tugenden. Die Vertreter dieser Ansätze können zwei Gruppen zugeordnet werden, virtue reliabilists und virtue responsabilists genannt. „Reliabilismus“ und „Responsibilismus“ unterscheiden sich darin, wohlgemerkt auch mit einigen Überschneidungen, wie sie intellektuelle Tugenden charakterisieren. Für beide Kategorien gibt es prominente Vertreter, die die Unterschiede zwischen den sogenannten hardwired faculties, den „fest verdrahteten“, zuverlässigen Fähigkeiten darlegen (Ernest Sosa) und den sogenannten praiseworthy skills, den „lobenswerten“, erworbenen Fertigkeiten, die bis hin zu erworbenen Charaktereigenschaften reichen (Linda Zagzebski). Reliabilisten verstehen unter intellektuellen Tugenden Veranlagungen, mit denen manche Menschen bereits geboren werden oder deren Entwicklung zumindest eine gewisse Anlage voraussetzt, wie z.B. optimale Sehstärke, hohe Intelligenz, ausgeprägte Intuition oder gutes Gedächtnis. Heather Battaly zitiert in ihrem Aufsatz A Third Kind of Intellectual Virtue: Personalism den Reliabilisten Ernest Sosa folgendermaßen: “there is a . . . sense of ‘virtue’ . . . in which anything with a function . . . does have virtues. The eye does . . . have its virtues, and so does a knife”. Sosa wendet dieses Konzept auch auf intellektuelle Tugenden an. Wenn das Erfassen der Wahrheit über die eigene Umgebung als eigentliches Ziel eines Menschen zählt, dann scheint die Fähigkeit des Sehens in einem weiten Sinne eine Tugend des Menschen zu sein. Wenn das Erfassen der Wahrheit eine intellektuelle Angelegenheit ist, dann ist diese Tugend auch in einem direkten Sinne eine intellektuelle Tugend. Einige intellektuelle Tugenden sind ein Geschenk von Mutter Natur und ihrer Evolution, aber viele andere müssen erlernt werden, räumt Sosa ein.
Die Responsabilisten hingegen verstehen unter intellektuellen Tugenden kultivierte, also entwickelte und gepflegte Charaktereigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Verständnis, Mut, Durchhaltevermögen oder Aufgeschlossenheit, für die der Mensch also bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich ist und gelobt werden kann, für deren Fehlen aber ebenfalls Verantwortlichkeit besteht, weil der Mensch eine gewisse Kontrolle über sie hat. Inspiriert von der aristotelischen Tugendethik argumentieren Responsabilists, dass intellektuelle Tugenden wie moralische Tugenden erworben, lobenswert und persönlich sein müssen. Dieses Verständnis von intellektuellen Tugenden verneint, dass bloße Fähigkeiten wie Wahrnehmung oder Gedächtnis als solche Tugenden gelten können. Denn, so die Responsibilisten, wir können nur für Dispositionen gelobt werden, deren Besitz unserer Kontrolle unterliegt, also für Dispositionen, die wir erwerben und verbessern können. Außerdem argumentieren die Responsibilisten, dass intellektuelle Tugenden persönlich sein müssen. Sie müssen tief verankerte Qualitäten einer Person ausmanchen, um als intellektuelle Tugend gelten zu können. Es handelt sich also um Charaktereigenschaften, die zum Grad der intellektuellen Tüchtigkeit der betreffenden Person beitragen, weil sie eine positive psychologische Ausrichtung auf das Erkenntnisvermögen beinhalten. Allerdings handelt es sich bei Reliabilismus und Responsabilismus nicht um einander völlig ausschließende Zugänge. Einig sind sich Reliabilisten und Responsibilisten darin, dass epistemische Tugenden Eigenschaften sind, die Menschen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, zu hervorragendem und umfassendem Denken und Erkennen befähigen, so dass beide Ansätze gegenseitig füreinander fruchtbar gemacht werden können. Die meisten Tugendepistemologen sind sich vor allem darin einig, dass belastbares Wissen ganz allgemein nicht eine zufällige Überzeugung ist, sondern dass entscheidend die Zuverlässigkeit des Prozesses ist, die das Wissen hervorgebracht hat.
Erkenntnisgewinnung muss reproduzierbar sein. Sie muss wiederholt zuverlässig nachvollziehbar sein und somit keinesfalls ein Zufallstreffer.38 Intellektuelle Tugenden sind zusammengefasst also stabile Dispositionen, die uns befähigen, unsere intellektuellen Funktionen gut auszuführen und gute intellektuelle Resultate wie etwa wahre Überzeugungen hervorzubringen.39 Diese Dispositionen können veranlagte oder entwickelte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen, ererbte oder geprägte Charaktereigenschaften sein.
Heather Battaly erweitert nun diese Konstellation und vertritt die Meinung, dass es neben Reliabilismus und Responsabilismus noch eine dritte Kategorie zur Bestimmung intellektueller Tugenden braucht, den Personalismus. Der Personalismus geht wie der Responsabilismus davon aus, dass intellektuelle Tugenden Persönlichkeitsmerkmale sind, die durch unsere diesbezüglichen Motivationen und Werte bestimmt sind und ausmachen, wer wir als Menschen oder als Denkende sind.40 Ähnlich dem Reliabilismus andererseits vertritt der Personalismus die Auffassung, dass ein Individuum für den Besitz intellektueller Tugenden oder Untugenden nicht unbedingt verantwortlich und damit auch nicht rechenschaftspflichtig sein muss.41 Der Personalismus lässt die Möglichkeit zu, dass ein Individuum wenig oder gar keine Kontrolle darüber hatte, welche Charaktereigenschaften es aufgrund seiner möglichen Sozialisierung erwirbt. Das Individuum ist daher weder dafür zu loben noch zu tadeln, dass es die intellektuellen Tugenden oder Defizite besitzt, die es besitzt.42 Damit erkennt der Personalismus an, dass Individuen oder ganze Bevölkerungsgruppen ihre intellektuellen Befähigungen und Motivationen größtenteils durch Zufall erlangt haben können, insofern ihr jeweiliges soziales Umfeld den größten Teil, wenn nicht sogar die gesamte „Charakterbildung“ übernommen hat.43 Kurz gesagt, der Personalismus erkennt an, dass die beiden Hauptvoraussetzungen, mit denen der Ansatz der Responsibilisten argumentiert, nämlich Charakter und Verantwortung, auseinanderfallen können.44 Zunächst einmal erfasst die Kategorie des Personalismus intellektuelle Charaktereigenschaften, die anerzogen werden. Solche Eigenschaften können besonders für die Lasterepistemologie von Bedeutung sein. Als Beispiel führt Battaly die Implementierung einer intellektuellen Untugend wie der Engstirnigkeit bei Kindern an, die dem erzieherischen Einfluss der Hitlerjugend oder durch den ISIS ausgesetzt waren.45 Geschlossene Weltbilder, starres, konformes Denken und Befehlsgehorsam wurden von den Kindern als richtig und vorbildhaft erfahren, Offenheit, Fragen und Zweifel dagegen als negativ und verächtlich. Die erlernte Engstirnigkeit wird, so Batterly, zum persönlichen Ausdruck eines erworbenen epistemischen Charakters und beruht auf – negativen – anerzogenen epistemischen Werten und Motiven. Entscheidend ist für Batterly allerdings, dass Menschen, die solchen Umgebungen ausgesetzt waren, nicht vollumfänglich für die erworbenen epistemischen Untugenden als unfreiwilliges Produkt ihrer Umgebungen verantwortlich gemacht werden können, sind doch Tugenden wie Untugenden bis zu einem gewissen Grade Glückssache – „a result of luck (good or bad)“46 – abhängig von der charakterformenden Umgebung, in der das Individuum heranwächst.
Tatsächlich üben wir wohl eher selten eine wirksame Kontrolle über die Entwicklung unserer intellektuellen Eigenschaften aus (George Sher 2006).47 Ein Großteil dieser Entwicklung vollzieht sich durch Anerziehung in der Kindheit, man kann sie als unser passives Erbe bezeichnen. Selbst als Erwachsene seien wir, so Sher, oft erst im Nachhinein in der Lage die Zusammenhänge zwischen unseren Handlungen und unseren intellektuellen Eigenschaften herzustellen. Womit die Vermutung naheliegt, dass der Personalismus in der Analyse der intellektuellen Tugenden und Laster am Ende eine viel größere Rolle spielen könnte als der Responsibilismus, in dem Sinne nämlich, dass die Wirksamkeit und Bedeutung der sozialisierten, also passiv ausgebildeten, gegenüber den aktiv kultivierten, entwickelten und gepflegten Charaktereigenschaften des Individuums viel stärker wiegen könnte.
3. Tugenden und Emotionen: Aufgeschlossenheit, Urteilszurückhaltung, Autonomie
Der Philosoph Michael S. Brady geht in seinem Aufsatz The Role of Emotion in Intellectual Virtue der Frage nach, welche Rolle die Emotionen für die intellektuellen Tugenden spielen. Er vertritt die These, dass epistemische Emotionen einerseits das Denken, Fragen und Forschen motivieren und vorantreiben können und damit für die eigentliche Existenz dieser intellektuellen Güter mitverantwortlich sind, dass sie andererseits aber auch wichtig sind, wenn es darum geht, diese intellektuellen Aktivitäten zu kontrollieren und zu regulieren.
Emotionen sind am besten geeignet, die Funktion der einstellungsbezogenen Motivationen zu übernehmen. Was Emotionen genau sind, darüber gibt es in Philosophie und Psychologie ganz unterschiedliche Auffassungen. Theoretiker des Gefühls sehen Emotionen schlicht als Gefühle oder Affekte an: typischerweise als Empfindungen von körperlichen Veränderungen etwa, die durch bestimmte Objekte oder Ereignisse hervorgerufen werden. Kognitivisten dagegen sind der Auffassung, dass Emotionen eher mit wertenden Urteilen, Überzeugungen und Wahrnehmungen verbunden sind. Robert Roberts geht davon aus, dass im Mittelpunkt des emotionalen Erlebens wertende Konstruktionen stehen, die aber nicht von körperlich spürbaren Gefühlen begleitet sein müssen.
Wie hängen Tugenden und Emotionen zusammen? Epistemische Tugenden sind mit Heather Battaly die Eigenschaften, die uns zu hervorragenden Denkern machen. Es sind stabile Eigenschaften, die uns dazu befähigen. Eine Veranlagung dafür zu haben, ist jedoch nicht genug. Denn erforderlich ist auch die Intention, entsprechend zu handeln. Voraussetzung dafür ist ein Handlungsmotiv, das eine positive Bewertung des Handlungsziels beinhaltet. Ein solches Motiv, in dem für die Untersuchung der Tugend relevanten Sinne ist eine Emotion, die eine Handlung in Gang setzt und auf ein wertvolles Ziel hinlenkt. Intellektuelle Tugend kann als eine Art und Weise betrachtet werden, absichtsvoll für das betreffende Gut zu handeln. Barmherzig zu sein etwa, würde nach Brady bedeuten, dazu motiviert zu sein, anderen zu helfen. Mitfühlend zu handeln, setzt die Emotion des Mitgefühls voraus und den daraus resultierenden Wunsch, andere Menschen in einer Situation der Bedürftigkeit unterstützen zu wollen. Brady unterscheidet weiter zwischen epistemischen Emotionen und nichtepistemischen Emotionen. Er stimmt mit einer Reihe von Theoretikern darüber überein, dass es eine Klasse von Emotionen gibt, die in besonderer Weise eine epistemische Dimension zu haben scheinen. Dazu gehören unter anderem Neugierde, Faszination, Verwunderung, intellektueller Mut, Akribie und Wahrheitsliebe, es werden aber auch Betroffenheit, Sorge, Demut, Vorsicht und Zweifel genannt. Einige dieser epistemischen Emotionen scheinen die motivierenden Komponenten ausgeprägter intellektueller Tugenden darzustellen. So sind Neugier, Faszination, Vorsicht und Zweifel alle auf spezifisch epistemische Objekte gerichtet und beinhalten gleichzeitig deren Bewertung. Wir sind neugierig auf die Antwort auf eine Frage oder wir sind neugierig darauf, die Wahrheit über ein Thema zu erfahren. Die Frage oder das Thema werden dabei positiv bewertet und als wissenswert eingeschätzt. Andererseits beinhaltet der Zweifel eine negative Bewertung des Wahrheitsgehalts einer Aussage, die wiederum die genauere Beschäftigung mit dem Wissensgegenstand zu motivieren vermag. Der Grund für die herausragenden Bedeutung epistemischer Emotionen liegt Brady zufolge in den Auswirkungen, die Emotionen auf die Aufmerksamkeit des Menschen haben, und darin, wie diese Emotionen das Handeln in einer angemessenen Weise priorisieren. Intellektuelle Emotionen haben eine motivationale Wirkung nicht nur, weil sie unsere Aufmerksamkeit für ein Thema erhöhen. Sie können die motivationale Wirkung auch daraus beziehen, dass sie uns eine zusätzlich affektive Verstärkung, eine Art Belohnung bieten. Das gilt für Emotionen wie Faszination, Wahrheitsliebe oder Neugier. So kann zum Beispiel Aufgeschlossenheit für Neues, eine intellektuelle Tugend, die mit unvoreingenommenem Interesse verbunden ist, eine motivierende Verstärkung erhalten, wenn sie mit Neugier zusammentrifft, die auf der Positivbewertung des Neuen, Unbekannten, Nichtgewussten beruht, oder mit Faszination, dem besonderen Interesse für ein Thema, das uns anzieht, oder schließlich mit Wahrheitsliebe, der es darum geht, den Tatsachen auf den Grund zu gehen. Diese epistemischen Emotionen halten als motivationale Komponente die affektive Belohnung im Erfolgsfall bereit.
Emotionen sind, wie Michael Brady betont, aber auch entscheidend für die Regulierung intellektueller Tugenden. Denn der motivierende Schub epistemischer Emotionen sichert noch nicht die Zuverlässigkeit der Denktätigkeit und ihrer Ergebnisse. Um intellektuellen Mut, intellektuelle Ausdauer, Gewissenhaftigkeit und Mäßigung aufrecht zu erhalten, braucht es auch Verstärkung durch epistemische Emotionen wie zum Beispiel Stolz und Genugtuung über die erreichten Leistungen oder Scham und Ablehnung gegenüber intellektueller Unaufrichtigkeit.
Mit der Regulierung intellektueller Tätigkeit beschäftigt sich auch der Erkenntnistheoretiker Stephen R. Grimm in seinem Aufsatz Understanding as an Intellectual Virtue. Zu den epistemischen Gütern, also den erstrebenswerten Zielen intellektueller Tätigkeit, gehören mit Grimm nicht nur die Tugenden der Erkenntnisgewinnung und des daraus entstehenden Wissens, sondern auch die Tugend des Verstehens. Grimm rechnet das Verstehen zu den Tugenden, die erworben werden, die also die Entwicklung von entsprechenden Charaktereigenschaften zur Voraussetzung haben. Er ordnet das Verstehen als eine Charaktertugend ein, die sowohl moralische als auch epistemische Anteile hat.
Wie kann der Vorgang des Verstehens beschrieben werden, wann sprechen wir von verstehen? Wir können vieles über Dinge wissen, ohne sie dabei zu verstehen. Verstehen erfordert, so Grimm, dass man Dinge, die miteinander in Zusammenhang stehen, in ihrem Zusammenhang sieht und begreift. Ein 8jähriges Kind zum Beispiel, das zum ersten Mal beobachtet, wie ein Luftballon aus einer Gasflasche befüllt wird und zum Himmel steigt, wenn man ihn loslässt, könnte sich eine Reihe von Fragen stellen und Beobachtungen machen. Es könnte nach einer Weile zu der Feststellung kommen sein, dass der Grund nicht in der Farbe des Ballons und auch nicht in der Tageszeit, im Ort oder im Wetter lag, dass ein Ballon auch nicht nach dem Loslassen aufsteigt, wenn er mit Luft aufgeblasen wurde, – wohl aber, wenn er aus einer Gasflasche befüllt wurde, in der Gas Helium enthalten ist. Ein Kind, das diese Möglichkeiten sortieren kann, in dem es die nichtzutreffenden Gründe von den zutreffenden Gründen zu unterscheiden vermag, würde den „modalen Raum“, also die realen Abhängigkeitsverhältnisse, des Ereignisses erfassen und es damit verstehen. Ein tieferes Verständnis der Sache, dass nämlich mit Helium befüllte Ballons aufsteigen, weil Helium leichter ist als die Luft in der Erdatmosphäre, und dass auch andere Gase, die leichter sind als Luft wie zum Beispiel Wasserstoff das Gleiche bewirken, würde einhergehen mit einem noch tieferen kognitiven Verständnis über die Zusammenhänge dieses modalen Raums. Grimm erweitert diese Überlegungen durch die These, dass es bei der Tugend des Verstehens nicht nur darum geht zu erkennen, wie die Dinge sind, sondern auch und möglichweise noch wichtiger darum, wie sie sein könnten. Erst dann erfassen wir den ganzen Umfang des modalen Raumes einer Sache, die wir verstehen wollen.
Erfordert das Verstehen von Menschen andere Tugenden als das Verstehen von naturwissenschaftlichen Sachverhalten? Grimm stellt fest, dass es beim V erstehen von Menschen zwei einander entgegenlaufende Momente gibt: einfühlende Empathie und moralisches Urteil. Urteilsdenken ist mit Grimm nicht als epistemische Tugend, sondern als epistemisches Laster zu werten, denn es führt zu falschen Überzeugungen über andere und über uns selbst. Durch Vorverurteilung schätzen wir den moralischen Status anderer falsch ein, in dem wir Gefahr laufen, als böswillige Motive auszulegen, was eher auf gewöhnliche Motive wie Eigeninteresse, Konformismus oder Passivität zurückzuführen wäre. V orverurteilung führt häufig dazu, den eigenen moralischen Status höher einzustufen als es gerechtfertigt wäre. Als Beispiel dafür führt Grimm die römische Sklavenhaltergesellschaft an, wobei im Verlauf des Kapitels die Auswahl dieses Beispiels kritisch betrachtet werden wird. Es sei klar, so Grimm, dass die Situation der Sklaven, unter denen viele Opfer römischer Eroberungen, Entführungen oder einfach Findelkinder waren, als elend zu bezeichnen war. Aber es wäre zu kurz gegriffen, die römischen Bürgerinnen und Bürger der Antike aus der Perspektive der Gegenwart moralisch dafür zu verurteilen. Grimm zieht dafür eine Parallele zur Gegenwart. Könnte es doch sein, dass in zweihundert Jahren klar wird, dass der Verzehr von Fleisch zutiefst falsch ist und dass das Leid der Tiere im Zuge der Fleischproduktion weitaus größer ist, als man es heute in der Mehrheit zur Kenntnis nimmt. Menschen, die in 200 Jahren zu verstehen versuchen, wie es war, in unserer heutigen Gegenwart ein Fleischesser zu sein, wären sicherlich gut beraten, unser Verhalten nicht auf Böswilligkeit oder Sadismus zurückzuführen, sondern eher moralischen Schwächen wie Konformismus, Egoismus, Ignoranz und Bequemlichkeit zurechnen. Wollten wir die römische Sklavenhaltergesellschaft verstehen, müssten wir versuchen, uns in die Denkweise ihrer Bürger hineinversetzen und davon ausgehen, dass das Leiden anderer auch den Römerinnen und Römern nicht völlig gleichgültig war, aber dass es schlicht den Gegebenheiten entsprach, dass die Verlierer von Aggressionskriegen infolge von Pech zu Sklaven wurden, ein Pech, dass die Römer eines Tages selbst hätte heimsuchen können.
Grimm argumentiert also für eine Kultivierung der Urteilszurückhaltung. Sie vermeidet eine moralische Vorverurteilung, indem sie versucht, die Motive und Umstände anderer wohlwollend zu interpretieren und dabei in Rechnung stellt, dass Menschen oft hinter dem zurückbleiben, was die Gerechtigkeit verlangt. Die Tugend des Verstehens ist somit ein Korrektiv, wenn es darum geht, epistemische Verzerrung durch Voreingenommenheit zu verhindern.
Wenn das Verstehen von Menschen vergleichbar wäre mit dem Verstehen von naturwissenschaftlichen Sachverhalten, käme es darauf an zu begreifen, wie jemand oder eine Gruppe von Menschen „funktioniert“. Es ginge dann darum, die Verbindungen zwischen den Überzeugungen, Handlungen und Wünschen der Betreffenden systematisch zu erfassen. Das würde jedoch vermutlich nicht dazu führen, dass sich das betreffende Gegenüber verstanden fühlt. Entscheidend für das Verstehen von Menschen ist vielmehr die Fähigkeit, so Grimm, sich in die Einstellungen des Gegenübers hineinzuversetzen. Das bedeutet, sich vorstellen zu können, wie es wäre, wenn einem selbst bestimmte Dinge so am Herzen lägen wie der andere Person oder wenn man die gleichen Sorgen, Hoffnungen und Bedenken hätte wie die Person selbst. Diese epistemische Fähigkeit hat zur Voraussetzung, die eigenen Überzeugungen und Wünsche ausblenden zu können und die Überzeugungen und Wünsche des Gegenübers für einen Moment zu übernehmen. Die Herausforderung besteht darin, die tiefer liegenden Selbstverständlichkeiten („for granteds“), also die kulturellen Vorstellungen und Annahmen zu erfassen, die die Einstellung des Betreffenden prägen, zumal auch die eigenen Prägungen nicht immer bewusst sind. Die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, mag selten vollständig gelingen. Die Annäherung an das epistemische Gut des Verstehens hängt davon ab, wie weit es möglich ist, die eigene Perspektive vorrübergehend beiseite zu lassen und die Überzeugungen und Wünsche des Gegenübers für einen kurzen Zeitraum zu übernehmen, um zu einer umfassenden Schlussfolgerung zu kommen. Dafür braucht es Erkenntnistugenden wie Aufgeschlossenheit, intellektueller Mut und intellektuelle Demut, die mit Grimm umso mehr herausgefordert sind, je fremder der Akteur oder die Kultur ist, die wir zu verstehen versuchen. Wobei eine ausgeprägte politische Polarisierung, die eine Kultur des intellektuellen Verstehens zwischen den Lagern dringend wünschen lässt, auch in der Mitte von Gesellschaften sichtbar werden kann, wie schon die von Grimm selbst angeführten Beispiele (Trump/Brexit/Black Lives Matter) aus USA und UK aufzeigen. Die Tugend der Aufgeschlossenheit kommt nicht zum Einsatz, wenn Dinge toleriert werden, mit denen wir ohnehin konform sind oder denen wir neutral gegenüberstehen. Stattdessen wird die Toleranz dann tugendhaft zum Ausdruck gebracht, wenn unbequeme, der eigenen Ansicht entgegengesetzte und nicht den eigenen entsprechende Einstellungen mit der Fähigkeit des Perspektivwechsels begegnet und anerkannt werden.
Zwar ist Grimms Argumentation über den Zusammenhang von epistemischer Tugend und dem Verstehen als der Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivwechsel ohne vorschnelles Urteilen durchaus zuzustimmen. Doch scheint das angeführte Beispiel, in dem wir aufgefordert sind, uns in den Zeitgeist der Sklavenhaltergesellschaft verständnisvoll hineinzuversetzen aus meiner Sicht nicht unproblematisch. Es soll darum gehen verstehen zu können, wie sich die Zeiten ändern und von uns heute empfundenes Unrecht zu einer anderen Zeit – zumindest von der profitierenden Stadtbevölkerung – als weniger dramatisch und gewissermaßen normal, wenn nicht sogar wirtschaftlich als vorteilhaft betrachtet wurde. Hier scheint mir, dass es Grimm konkret an eben der epistemischen Tugend des Verstehens und dem Werkzeug des Perspektivwechsels mangelt, die er als epistemische Tugend beschreibt. Ich beobachte eine Verkennung der eigenen privilegierten Stellung des Autors als privilegierter weißer Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten Amerikas, wo der afroamerikanische Anteil der Bevölkerung fast 15% beträgt und dieser fortlaufend mit Rassismus, Vorverurteilung und struktureller Ungerechtigkeit konfrontiert leben muss, zumal der Schmerz der bis ins 19. Jahrhundert anhaltenden Sklavenhaltung weiter in ihr pocht. Die Wahl des Beispiels, um die wertvolle Tugend des Verstehens zu illustrieren, scheint mir denkbar unglücklich gewählt und veranschaulicht bestenfalls, was Grimm zu vermeiden sucht, nämlich die Perspektive dieser Bevölkerungsgruppe nicht einnehmen zu können, die sich verletzt und verkannt empfinden dürften. Das Beispiel hinterlässt den bitteren Beigeschmack der Verharmlosung der Gräuel der Sklaverei und des Traumas der nachfolgenden Generationen. Es lässt den Anschein zu, dass hier ein blinder Fleck existiert und eher theoretisch über die praktische Tugend des klugen Verstehens nachgedacht wurde.
Für die feministische Epistemologin Heidi Grasswick ist eine zentrale epistemische Tugend die Autonomie. Sie betrachtet die epistemische Autonomie als grundlegend für die Entwicklung epistemischer Handlungsfähigkeit. In ihrem Beitrag Epistemic Autonomy in a Social World of Knowing diskutiert Grasswick die Gründe dafür, aber auch mögliche Einwände.
Unter intellektueller Autonomie wird sowohl intellektuelle Selbständigkeit verstanden als auch intellektuelles Selbstvertrauen. Intellektuelle Autonomie schützt die betreffende Person davor, sich auf die Überzeugungen anderer zu verlassen, die ggf. falsch oder unethisch sein könnten. Denn es sind nicht immer alle Quellen überprüfbar. Intellektuelles Selbstvertrauen würde in diesem Fall bedeuten, dass die betreffende Person ihren eigenen Verstand gebraucht, für sich selbst urteilt und entscheidet und auf diese Weise die angemessene Rechtfertigung für die eigenen Überzeugungen gewinnt. Aber ist intellektuelle Autonomie nicht eher eine Illusion als ein realistisches Ziel? KritikerInnen verweisen darauf, dass die Vorstellung von intellektueller Autonomie mit einem sehr individualistischen Verständnis von Wissen verbunden ist. Erkenntnis scheint aber weitgehend in soziale Kontexte eingebunden zu sein. Wir sind auf der einen Seite zunehmend abhängig von den Aussagen anderer, schon weil wir nicht mehr alle Aussagen eigenständig überprüfen können. Es hat sich daraus eine Art kognitive Arbeitsteilung entwickelt, die notwendigerweise auch die Festlegung epistemischer Praktiken und Beweisstandards mit beinhaltet. KritikerInnen wie insbesondere Lorraine Code haben andererseits eingewandt, dass die intellektuelle Selbständigkeit ungerechtfertigt viel Aufmerksamkeit erfährt, wenn der/die einzelne Wissende abgelöst von seinem/ihrem sozialen Kontext als fähig und verpflichtet angesehen wird, sich bei der Suche nach Wissen ganz auf seine/ihre eigene Vernunft zu verlassen. Das führe zu einem erkenntnistheoretischen Fokus, der die Analyse der sozialen Dynamik und der Politik des Wissens auslässt. Aus der Sicht feministischer und sozialer Erkenntnistheorien ist gerade diese Analyse aber ganz entscheidend in Umgebungen, die von Unterdrückung gekennzeichnet sind. Denn der individualistische Ansatz übersieht aus der Sicht dieser Erkenntnistheorien die sozial eingebettete epistemische Praxis im wirklichen Leben. Das betrifft sowohl die destruktive Bedeutung sozialer Kontexte, in denen etwa die epistemischen Fähigkeiten nichtdominanter Personen oder Personengruppen abgewertet oder ihre Beiträge konsequent missverstanden werden. Das betrifft aber auch die produktive Bedeutung der Interaktion mit anderen dort, wo das Erreichen gemeinsamer epistemischer Ziele von Individuen gemeinschaftlich gestärkt werden kann.
Einen Ausweg bietet hier das Konzept der „relationalen Autonomie“. Relationale Autonomie erkennt an, dass bestimmte soziale Bedingungen – familiäre und schulische Umgebung, Zugang zu Bildung – erforderlich sind, damit sich intellektuell autonome Individuen herausbilden können und zeigt damit auf, in welcher Weise Individuen epistemisch von ihren Gemeinschaften abhängig sind und ihnen gegenüber auch verwundbar sind. Die Befähigung zur Ausübung der epistemischen Autonomie schließt also unsere Beziehungen zu anderen mit ein. Neben dieser entwicklungsbedingten Relationalität der Autonomie betont die konstitutive Relationalität der Autonomie die ganz grundsätzliche Wechselwirkung. Sie weist darauf hin, dass begründete Erkenntnis dialogisch ist, weil sie sich immer mit anderen Standpunkten und anderen Möglichkeiten auseinandersetzen und gegen sie bewähren muss. Der Begriff der Autonomie, so Grasswick, bleibt mit diesen Differenzierungen weiter bedeutsam für die epistemischen Handlungsfähigkeit des Einzelnen. Der Begriff der Autonomie bleibt auch bedeutsam, wenn es um die Anerkennung der intellektuellen Position des Gegenübers geht. Nicht zuletzt aber bleibt der Begriff der Autonomie bedeutsam in Kontexten der Unterdrückung, wo es darum geht, epistemische Handlungsnischen zu beschreiben. Im Einklang mit anderen feministische ErkenntnistheoretikerInnen betont Grasswick in diesem Zusammenhang vor allem die Bedeutung autonomiebezogener Tugenden wie unabhängiges Denken, Vertrauen in das eigene Denken und Selbstvertrauen, aber auch das Teilen von Erfahrungen in kleinen Gemeinschaften, wenn Menschen in der Position der Unterdrückten die Fähigkeit haben sollen, dem epistemischen Druck und der allgegenwärtigen Perspektive der dominanten Position zu widerstehen.
4. Vulnerabilität und Natalität
In diesem Kapitel soll die Frage nach der Tugend der Erkenntnis noch etwas erweitert werden: Wer sind wir als Erkenntnissubjekte? In welchem limitierenden Rahmen bewegt sich unser Streben nach der Exzellenz des Denkens und wo sind diese Limitierungen durchlässig?
Das Konzept der Vulnerabilität, also der Verletzlichkeit, hat inzwischen in alle Wissenschaftsbereiche Eingang gefunden. Vulnerabilität kann sowohl als allgemeine conditio humana beschrieben werden, als Grundbedingung unserer menschlichen Existenz, aber auch als situative Verletzlichkeit, die in Verbindung steht mit bestimmten Gefahren (Corona-Pandemie, Flutkatastrophen) oder bestimmten Lebensverhältnissen (Chancenungleichheit, staatliche Unterdrückung). Diese situative Verletzbarkeit betrifft nicht alle Menschen oder Menschengruppen in gleicher Weise und in derselben Hinsicht. Daraus entstehen Fragen nach Risiken und Schutzmaßnahmen, aber auch nach Rechten und Gerechtigkeit. Vulnerabilitätsforschung ist daher immer auch mit der Suche nach Handlungsperspektiven verbunden. Welche Rolle spielen die Erkennnistugenden nun für das vulnerable Erkenntnissubjekt?
Die evangelische Theologin Heike Springhart stellt in ihrem Aufsatz Vulnerabilität als Kernkategorie einer realistischen Anthropologie die These auf, dass es gerade die Komplementarität von ontologischer – also im menschlichen Sein angelegter – und situativer Vulnerabilität sei, die die Vulnerabilität zu einem Wert des Menschseins mache.86 Vulnerabilität ist mit Springhart eine unabweisbare und äußerst bedrängende Dimension des menschlichen Lebens, aber es sie beinhaltet auch Möglichkeiten. Vulnerabilität besteht in innergesellschaftlicher Hinsicht, man denke an die Gefährdung von Demokratien durch populistische Strömungen in Europa und den USA, aber auch zwischen systemkonkurrierenden Gesellschaften. Vulnerabilität besteht zwischen Zivilisation und Natur in beide Richtungen wirkend, wenn wir an die vielen Folgen des menschengemachten Klimawandels denken. Vulnerabilität besteht aber auch im Hinblick auf jedes einzelne Leben mit Krankheit, Alter und Sterben, mit Gewalt, Trauma, Misserfolg, Fehleranfälligkeit, Verletzung und Enttäuschung. Menschen erfahren ihre Vulnerabilität, ihre Verletzlichkeit, aber sie sind auch vulnerant – sie verletzen selbst in mehr oder weniger großem Umfang. Die theologische Anthropologie leistet in diesem Feld einen Beitrag, indem sie die Bedeutung dieser menschlichen Bedingtheit überdenkt, um wie bei Heike Springhardt einen „nüchternen und scharfen Blick auf die Realität zu wagen“ und sowohl die bedrohlichen als auch die möglicherweise bereichernden Seiten der menschlichen Verwundbarkeit zu beschreiben. Menschliches Leben, das die theologische Anthropologie als geschöpfliches Leben, d.h. geschaffenes Leben versteht, das sich nicht sich selbst verdankt, ist per se verwundbar und endlich. Und in diesem Sinne ist es auch grundsätzlich offen für Veränderungsprozesse. Neben diese für alle Menschen gleichermaßen geltende ontologische Vulnerabilität tritt die situative Vulnerabilität, die für Menschen und Menschengruppen erhöht ist, sei es durch Krankheit, sei es durch mangelnden Zugang zu Nahrung oder durch mangelnden Zugang zu Bildung und epistemischer Autonomie. Menschen in solchen situativen Gegebenheiten sind darum aber nicht als defizitär oder schwach oder weniger verantwortlich für ihr Leben anzusehen. Die Komplementarität von ontologischer und situativer Verwundbarkeit ist ein entscheidender Aspekt der menschlichen Vulnerabilität. Es gibt kein unverwundbares Leben. Die ontologische Vulnerabilität wird von allen Menschen in gleicher Weise geteilt. Situative Vulnerabilität dagegen geht auf konkrete Bedingungen und Wirkfaktoren zurück, sie kann gesteigert oder gemindert werden.
Das Bewusstsein der Zerbrechlichkeit und mithin der Endlichkeit des menschlichen Lebens zieht – einmal abgesehen von einem dasselbe überschreitenden Möglichkeitsraum – nicht notwendigerweise die Vorstellung eines gänzlich passiven Ausgesetztseins nach sich. Krankheit impliziert auch die Chance der Heilung, selbst schwerste Verletzungen können vernarben. Das Konzept der menschlichen Autonomie, also des Menschen als potentiell autonom handelndes Subjekt schließt mit ein, dass Menschen in ihrer fundamentalen Bezogenheit auf andere Menschen situativ sowohl Glück, als auch Leid erfahren. Die Sehnsucht nach Unverwundbarkeit zieht sich durch die menschliche Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Was dem Leben Raum gibt, ist mit Heike Springhart aber nicht das Ringen um Unverwundbarkeit, sondern das Wagen von Verletzlichkeit.
Bereits die biblischen Texte des Alten Testaments thematisieren die Vulnerabilität der Menschen, ja sogar Gottes schon in vielfältiger Weise. Die Schöpfungsgeschichte (Gen 3–10) beschreibt die Anfälligkeit des Menschenpaares gegenüber Versuchung und Versagen, ihre Selbsterkenntnis in der Nacktheit spiegelt Schutzlosigkeit und Scham. Die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4) zeichnet die menschliche Anfälligkeit für Neid, Gewalt und Schuld. In der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern (Gen 37–50) wird beschrieben, wie Verletzlichkeit sich umkehren kann und in Berührbarkeit umschlägt. Wenn Joseph zu Anfang der Geschichte von seinen Brüdern Gewalt erfährt, in die Zisterne geworfen und später als Sklave verkauft wird, so sind es am Ende seine Brüder, die in der bedrohlichen Hungersnot von Joseph gerettet werden. Auch Gott erscheint in den biblischen Texten als vulnerabel und affizierbar, wie etwa in der Sintflutgeschichte (Gen 6,5–9,17), die mit dem zürnenden Gott beginnt und mit dem reuigen Gott endet, der verspricht, dass er seine Schöpfung nie wieder zerstören wird. Die neutestamentliche Überlieferung der Menschwerdung Gottes in Christi Geburt und Kreuzestod mit der Perspektive auf die Glaubensverwandlung der Welt ist als Zeichen für die transformatorische Kraft der Vulnerabilität Gottes zu lesen.
Für das christliche Verständnis vom Menschen ist seine Vulnerabilität auf der ontologischen und auf der situativen Ebene zentral. Vulnerabilität kann als ein Wert des Menschseins in einer komplexen und mehrdeutigen Realität betrachtet werden. Die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens schliesst das Bewusstsein seines Gefährdetseins und seiner Endlichkeit mit ein. Es schließt aber auch das Bewusstsein seiner Kostbarkeit mit ein und der Notwendigkeit, für das Leben Sorge zu tragen. Die Erfahrung von Verletzlichkeit kann als Voraussetzung dafür begriffen werden, dass Menschen sich berührbar zeigen. Sie kann die Grundlage sein für den solidarischen Willen und die Kraft zur Veränderung im Bewusstsein unserer wechselseitigen Angewiesenheit und Verantwortung füreinander.
Für das Feld der epistemischen Tugenden können wir daraus zwei Schlüsse ziehen. Zum einen müssen wir als Erkenntnissubjekte unsere grundsätzliche Anfälligkeit für epistemische Verzerrungen zur Kenntnis nehmen, wenn es etwa um die notwendige Kontrolle von Informationsquellen geht oder um die Wahrnehmung für epistemische Abhängigkeiten und Denkprägungen. Zum anderen muss es darum gehen, mit dem Wissen um die grundlegende allgemeine und die situative, unter den Individuen und Gruppen sehr unterschiedliche, menschliche Verwundbarkeit eine Perspektive zu entwickeln, die unser Denken auf ein Handeln nach dem Maßstab der Gerechtigkeit und Menschlichkeit ausrichtet.
Das Konzept der Natalität betrachtet die conditio humana, die menschliche Bedingtheit, gewissermaßen aus der umgekehrten Perspektive. Die deutsch-US-amerikanische Philosophin Hannah Arendt entwickelt diesen Begriff besonders in ihrem Werk Vita activa oder vom tätigen Leben, das 1958 zunächst in englischer Sprache erschien. Er ist in der philosophisch-theologischen Begriffsgeschichte einzigartig. Mit dem Begriff der Natalität, der Geburtlichkeit, bestimmt Hanna Arendt die menschliche Existenz im Gegensatz zur philosophischen Tradition, aber auch zum aktuellen Begriff der Vulnerabilität nicht von ihrer Zerbrechlichkeit und Endlichkeit her, sondern stattdessen aus ihrer Anfänglichkeit.
Die religiösen Dimensionen des Konzepts der Natalität wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition. Die Geburt versteht Hannah Arendt als die Tatsache, die uns Menschen als bewusstes und dankbar erinnerndes Wesen bestimmt. Die Natur als Geschöpf Gottes, die Kreatürlichkeit, gibt dem Menschen das Fundament, von dem aus er leben und vor allem handeln kann. Diesem Handeln gilt das Erkenntnisinteresse Hannah Arendts. Seine ontologische V oraussetzung ist die Natalität. Der Ausgangspunkt für das Handeln ist nicht das Vorbild anderer, nicht die Erwartung eines Nutzens, sondern er scheint im Anfang selbst zu liegen. „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein Initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ Mit dem Faktum der Natalität öffnet sich der Horizont jedes einzelne Mal für das Neue, das Unvorhersehbare, das Überraschende, das Wunder, das den Gang der Dinge unterbricht. Dieses Unvorhergesehene beruht auf der Natalität, durch die jeder und jede Einzelne einmal als ein einzigartiges Neues auf der Welt erschien. Dieser Neuanfang geschieht im Sprechen und im Handeln, in dem der Mensch Verantwortung für sein Geborensein übernimmt, „wie Fäden [...], die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern [...]. Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar [Hervorhebung im Original].“
Der Natalitäts-Gedanke greift zurück auf die jüdische Schöpfungsgeschichte, aber auch auf das jesuanische Christentum. Mit der Erschaffung des Menschen ist der Anfang eines Wesens gesetzt worden, das selbst die Fähigkeit und die Freiheit besitzt anzufangen. Mit der Erzählung von Christi Geburt in der Krippe wird der Beginn eines unerwarteten und unvorhersehbaren Neuen angezeigt. Hannah Arendt schreibt: „Entscheidend [...] ist, daß das Christentum [...] stets großes Gewicht darauf gelegt hat, daß das Leben, dem es Unsterblichkeit und also Endlosigkeit verhieß, mit einer Geburt auf Erden anfängt. Das Erdenleben mag einem Jammertal gleichen, es bleibt doch immer der Anfang und die Bedingung der Unsterblichkeit, und dieser Anfang hat einen absoluten Wert.“
Indem das Christentum die Unsterblichkeit des einzelnen Lebens als Glaubensartikel einführte, wurde zugleich auch das irdische Leben zum höchsten Gut der Glaubenden. Arendt entnimmt der jüdisch- christlichen Tradition für ihre politische Philosophie nicht den üblichen Verweis auf die Sündhaftigkeit und Gebrochenheit der menschlichen Existenz, sondern deckt die darin enthaltene Basis von Urvertrauen und Hoffnung als neue Grundlage für politisches Handeln auf. Sie plädiert dafür, dass Menschen sich nicht nur als Sterbliche, sondern zuallerst als Geborene begreifen. Die Natalität als Kennzeichen menschlicher Existenz lenkt den Blick darauf, dass das Neue, das „Wunder“ jeder einzelnen Geburt in genau dem Handlungsraum besteht, der sich fortwährend von neuem auftut und ermöglicht, dass wir Menschen handelnd und selbstverantwortlich die Welt gestalten.
Die Rolle der Natalität für die Erkenntnistätigkeit hat die katholische Theologin Michaela Quast- Neulinger kürzlich thematisiert. In ihrem Aufsatz Den Tanz riskieren. Theologie und theologische Existenz am Rand der Moderne hebt sie noch einmal hervor, dass Arendts Konzept der Natalität, also der Neuanfänglichkeit quasi als Geburtsrecht jedes Neuankömmlings in unserer Welt, beinhaltet, dass wir einen unverfügbaren Anfang haben, der intrinsisch mit Freiheit verbunden ist. Daraus folgt, dass Interaktionsketten nicht fortgesetzt werden müssen, denn mit jedem Neuanfang existiert ein Raum für neue Handlungsentwürfe und damit für Pluralität. Menschliches Handeln impliziert Unterschiede, Auseinandersetzungen und Konflikte, allein der Akt des Sprechens macht schon die Pluralität von Menschen sichtbar. Quast-Neulinger verweist mit Nachdruck auf die Bedeutung der Natalität und der damit einhergehenden Pluralität des Denkens. Die Pluralität des Denkens ist eine entscheidende Erkenntnisressource auch in der theologischen Wissenschaft. Natalität in ihrer Realisierungsform als Pluralität ernst zu nehmen, bedeutet demnach, den Reichtum des Wissensarchivs von Schrift und Tradition zu schätzen und doch gleichzeitig in der Bearbeitung dieses Archivs die gültige Ordnung der Erkenntnisse immer wieder auf die Fragen und Anliegen der Gegenwart hin zu aktualisieren.
5. Fazit
Die Auseinandersetzung mit den Fragestellungen der Tugendepistemologie zusammen mit den Eindrücken aus der Vulnerabilitätsforschung und der inspirierenden Begriffsneuschöpfung der Natalität von Hannah Arendt haben zu aufschlussreichen Erkenntnissen für das Zusammenwirken der Erkenntnistugenden im Allgemeinen, aber auch für den ganz praktischen, individuellen Lebensvollzug geführt. Die Tugenderkenntnistheorie konstatiert, dass, um wahres, belastbares und gerechtfertigtes Wissen zu erlangen, epistemische Tugenden vorhanden sein bzw. herausgearbeitet werden müssen. Schnelle Auffassungsgabe, hervorragende Sehstärke, gutes mathematisches Verständnis oder Einfühlungsvermögen können als Anlage bereits vorhanden sein. Aber auch wenig oder noch gar nicht herausgebildete Tugenden wie intellektueller Mut, Weltoffenheit oder Beharrlichkeit können und sollen vom Einzelnen kultiviert werden, da der Mensch und mit ihm seine Tugenden einem Entwicklungsprozess unterliegen. Vor allem die Responsabilisten unter den Erkenntnistugendforschern betonen die Verantwortlichkeit des Einzelnen für das Entwickeln von Tugenden, ebenso wie das Verantwortenmüssen von Untugenden. Die Reliabilisten hingegen beziehen sich eher auf die bereits im Menschen angelegten Fähigkeiten, die, wenn auch ungleich verteilt, bei denjenigen, die über ausgeprägte Fähigkeiten verfügen, zu verlässlichem Wissen führen können. Der Personalismus als dritter Ansatz in der Erkenntnistugendforschung bringt den unfreiwilligen Sozialisierungsaspekt ins Spiel, der die Menschen zu einem frühen Zeitpunkt prägt und der an der Herausbildung von Tugenden und Untugenden einen beachtlichen Anteil hat. Dennoch, so sind sich die TugendepistemologInnen mit Aristoteles einig, können und müssen sogar Tugenden kultiviert und fortlaufend weiterentwickelt werden. Insbesondere der Personalismus stellt heraus, dass durch solidarische Interaktion und ein dialogisches Umfeld ebenjene Tugenden ausgebildet werden können, die, sei es durch fehlende Disposition, ungleiche V oraussetzungen, schwierige Lebensbedingungen oder systematische Benachteiligung, zunächst nicht entstehen konnten. Dabei scheinen sich die Erkenntnistugenden wechselseitig zu ergänzen und voranzutreiben, was wiederum schon bei Aristoteles mit Hinblick auf die Tugend der Klugheit dargelegt wird, um die sich weitere Tugenden scharen, wenn sie kultiviert wird. Bei der Entwicklung von epistemischen Tugenden, ebenso wie bei der Gewinnung gerechtfertigter Erkenntnis, spielen Emotionen eine bedeutsame Rolle. Emotionen wie Wissensdurst, Faszination, aber auch Betroffenheit und Sorge übernehmen zentrale motivierende Funktionen. Emotionen wie Verantwortungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit und Ausdauer ermöglichen es dem Denkenden aber auch, langwierige Prozesse und mögliche Durststrecken beim Erlangen von Erkenntnissen auszuhalten. Im Umkehrschluss kann davon ausgegangen werden, dass ein aktives Entwickeln von epistemischen Emotionen, etwa durch bewusst gewählte, ermächtigende Denkprozesse, bei deren Folge – wie bei jedem anderen Gedanken auch – Emotionen im Menschen ausgelöst werden, dem Menschen Unterstützung bietet beim Erkenntnisgewinn und dem Handeln danach.
Es wird deutlich, dass die Tugenderkenntnistheorie exzellentes Denken mit emotionaler Intelligenz verbindet. So können die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und die empathische Wahrnehmung von Beweggründen des Gegenübers, ebenso wie der intellektuelle Mut zu neuen Fragen und die intellektuelle Demut angesichts von Grenzen, und nicht zuletzt auch die Berührbarkeit vor dem Hintergrund eines Wissens um die Verwundbarkeit der menschlichen Existenz als Ausdruck von emotionaler Intelligenz gewertet werden, die zu exzellentem Denken führt.
Wenn Aristoteles die Klugheit als zentrale Tugend beschrieb, so kristallisiert sich derzeit vor allem die (relationale) epistemische Autonomie als die Tugend heraus, die nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand den Nährboden für viele weitere Tugenden in Zusammenhang mit exzellentem Denken und dem Generieren von belastbarem Wissen bietet. Angesichts der tiefen Prägung eines jeden Menschen durch epistemische Sozialisierungserfahrungen und die damit einhergehende Perspektivität des Denkens, kann geradezu von einer ontologischen Vulnerabilität gesprochen werden, insofern jedes Individuum im Zuge seines Aufwachsens unter Aufnahme von Sätzen und Weisungen aus der jeweiligen Umwelt sich seine epistemische Autonomie im Zuge frei gewählter Umgebungen erst erkämpfen muss. Hannah Arendts Konzept der Natalität eröffnet in diesem Zusammenhang ein Blickfeld, das für die Wahrnehmung und das Empfinden des eigenen Raums für Neugestaltung, nach dem sich viele Menschen sehnen, eindrücklich sein dürfte. Sich selbst, das eigene Leben und dessen Vollzug – und selbst alte Traditionen – als frische, wachsende und gestaltungsoffene Möglichkeiten zu erkennen, eröffnet eine völlig andere, weite Sicht auf Sinnhaftigkeit, auf Verantwortung für das Miteinander, den Heimatplaneten und nicht zuletzt auf das kostbare Gut der Selbstverwirklichung.
Karla Johanna Schaeffer: Exzellent denken. Epistemische Tugenden und die Rolle der Emotionen, Hausarbeit, Universität Luzern, HS 2022.
Ausgewählte Literaturangaben:
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/ Zürich 42006.
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes
herausgegeben von Günther Bien, Hamburg, 31972.
Battaly, Heather: Introduction, in: Dies. (Hg.), The Routledge Handbook of Virtue Epistemology, New York, 2019a, S. 1–14.
Battaly, Heather: A Third Kind of Intellectual Virtue: Personalism, in: Battaly, Heather (Hg), The Routledge Handbook of Virtue Epistemology, New York, 2019b, S. 115–126.
Brady, Michael, S.: The Role of Emotion in Intellectual Virtue, in: Dies. (Hg.), The Routledge Handbook of Virtue Epistemology, New York, 2019, S. 47–57.
Gettier, Edmund L.: Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis, Vol 23, No. 6, Oxford University Press, Jun., 1963, S. 121–123.
Grasswick, Heidi: Epistemic Autonomy in a Social World of Knowing, in: Heather Battaly (Hg.), The Routledge Handbook of Virtue Epistemology, New York, 2019, S. 196–208.
Grimm: Stephen R.: Understanding as an Intellectual Virtue, in: Heather Battaly (Hg.), The Routledge Handbook of Virtue Epistemology, New York, 2019, S. 340–351.
Springhart, Heike: Vulnerabilität als Kernkategorie einer realistischen Anthropologie. Grundsätzliche Erwägungen aus Sicht der evangelischen Theologie, in: Hildegund Keul (Hg.): Theologische Vulnerabilitätsforschung gesellschaftsrelevant und interdisziplinär, Stuttgart 2021, S. 199–218.