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Meister Eckharts Trostbuch und seine Relevanz für den gestressten Menschen im 21. Jahrhundert

Wie kann Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts ein christlicher Gottesglaube in der Sprache ihrer Zeit zugänglich gemacht werden? Diese Frage stellt sich der Theologe Thomas Philipp und zitiert in seinem Artikel Christliche Identität im 21. Jahrhundert die Aussage von Eugen Biser: Das Christentum befinde sich in der womöglich tiefsten Identitätskrise seiner Geschichte. Die Frage, warum es in unserer westlichen Kultur im Jahre 1500 praktisch unmöglich gewesen ist, nicht an Gott zu glauben, und warum ebendas nun, 500 Jahre später, im 21. Jahrhundert vielen von uns nicht nur leichtfällt, sondern die naheliegendste Option scheint, stellt der Philosoph Charles Taylor in seinem Buch Ein säkulares Zeitalter. Wenn der eher starre und wenig individuelle, fast schon alternativlose Weg der traditionellen christlichen Kirche viele Menschen nicht mehr anspricht, was gibt uns Halt, Stabilität und Orientierung? Denn der Wunsch nach Sicherheit und das Bedürfnis, sich in Verbindung zu fühlen, ist groß. Mit der immer schneller und hektischer werdenden Lebensweise des 21. Jahrhunderts sehnen sich Menschen umso mehr nach Resonanzerfahrungen und dem verloren gegangenen Gefühl des Vertrauens, der Ruhe und der Geborgenheit. Auf verschiedenste Weise wird nach Möglichkeiten innerer Erfahrungen gesucht und versucht, sich zu verbinden, sich zu fühlen und in Resonanz zu erfahren. Es wird an sich gearbeitet und versucht, geistig zu wachsen („self growth“), in einem Ausmaß, dass auf dieser drängenden Suche schon die Gefahr besteht, im „Erlebniskonsum“ steckenzubleiben. Erleben wir heute also tatsächlich eine religiöse Gleichgültigkeit, die die offiziellen und stillen Kirchenaustritte erklären würde? Charles Taylor begibt sich auf die Suche nach gegenwärtigen Erscheinungsformen religiösen Glaubens und kommt zu dem Schluss, dass es neben der kirchlich organisierten Religion, die immer mehr an Boden verliert, eine „privatistische“ und eher „frei schwebende“ Spiritualität durchaus gibt. Er spricht vom „Rückzug des Christentums“ und stellt gleichzeitig fest, dass dieser Vorgang nicht mit einem Verschwinden religiösen Glaubens zu verwechseln sei. Stattdessen gebe es vielfältige spirituelle Suchbewegungen. Denn kaum anders als vor 500 Jahren erleben Menschen auch heute persönliche Dramen, Schicksalsschläge und Verluste, haben Fragen, suchen nach Sinn und Bedeutung. Hinzu kommt die enorme Beschleunigung der Lebensweise im 20. und 21. Jahrhundert, die ihre ganz eigenen Belastungserfahrungen mit sich bringt. Patrick Kury bezieht sich in seinem Buch Der überforderte Mensch auf den Soziologen Andreas Reckwitz, der einen permanenten „unternehmerischen“ Wettbewerb des Menschen in der Postmoderne beschreibt, der damit erklärt wird, „beständig im Komparativ qualitativer Steigerung zu denken“, und der den Menschen in einen Sog der Selbstoptimierung geraten lasse. Eine forcierte Wettbewerbssituation als Folge dieser Entwicklung zwingt den Menschen, sich andauernd zu optimieren. Daneben lässt die Individualisierung, die Flexibilisierung durch technologische und digitale Entwicklungen und die beschleunigte Lebensweise in der heutigen Multioptionsgesellschaft psychische und körperliche Stressbelastungen bei den Menschen entstehen. Und je größer die Gesamtbelastung, desto mehr scheinen sich Menschen eigenen Formen der Spiritualität zuzuwenden. Mutet also vor allem die traditionsgebundene Struktur der Kirche und die kaum weniger traditionsgebundene Vermittlung der Frohen Botschaft als nicht zeitgemäß an? Denn auf der Suche danach scheinen wir doch zu sein.

 

Glaube ist nicht nur eine Frage der Botschaft, sondern Glaube richtet sich auch danach, wie diese Botschaft empfangen werden kann. Er ist eine Frage der Resonanz, des Sichidentifizierenkönnens und des Abgeholtwerdens. Eine Hoffnungsbotschaft kann verstanden werden, wenn sie eine Fläche findet, an der sie andocken kann, und wenn die Fläche eine zeitgemäße Anbindung ermöglicht. Wenn Strukturen und Traditionen fernab der eigenen Lebensweise sind oder das Werteverständnis nicht mehr übereinzustimmen scheint, genügt es nicht, dass die Aussage

richtig ist, „weil man an einer Wahrheit vorbeigehen kann, die nicht anzieht,“ wie der französische Geistliche Albert Jean-Marie Rouet feststellt. So sind Ohren und Augen und Herzen nicht mehr aufnahmebereit für die tröstende und haltgebende Botschaft des christlichen Glaubens. Auch wenn diese schön verpackt, gut dokumentiert und traditionsreich vermittelt angeboten wird, ist die Begehrlichkeit entscheidend davon abhängig, welche Wege sie findet, um den Einzelnen zu erreichen, welche Tonlage sie anstößt, um gehört zu werden, und welcher Flexibilität sie sich bedient, um mit den gesellschaftlichen Veränderungen mithalten zu können. Interessant scheinen mir in diesem Zusammenhang die klaren Worte des christlichen Mystikers Meister Eckhart. Die vorliegende Arbeit untersucht die Frage, welche Bedeutung Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung für das schnelle, flexibilisierte und individualisierte Leben der Gegenwart und vor allem die damit verbundenen Anforderungen und Belastungen des Individuums haben kann und welche Glaubenszugänge es dafür bereithält. Es soll die Hypothese belegt werden, dass Meister Eckharts Trostbuch und sein Konzept der Gelassenheit dem gestressten und überforderten Menschen entgegenkommt, vor dem Hintergrund der vom traditionellen Glauben abgekehrten Lebensweise und Alltagsbewältigung. Im ersten Schritt werden die Belastungserfahrungen der postmodernen Gesellschaft dargelegt. Anschließend ist bündig zu klären, was unter Mystik verstanden werden kann und wie mystische Erfahrungen erlebt werden. Meister Eckharts Mystik im Speziellen, sein Gottesverständnis und sein Lehrvorhaben sind Gegenstand des nächsten Abschnitts. Anhand seiner lebensnahen Beispiele und der dazu formulierten Trostgründe möchte ich im Folgenden zeigen, welche Relevanz Meister Eckharts Predigten für das schnelle Leben in der Gegenwart noch immer haben, wie Gott nach Meister Eckhart „wiederentdeckt“ werden kann, was dazu nötig ist und weshalb der persönliche Gottesglaube angesichts der spezifischen Belastungen der Gegenwart immer noch das Potential der Unterstützung und Stärkung bietet.

Wie kann Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts ein christlicher Gottesglaube in der Sprache ihrer Zeit zugänglich gemacht werden? Diese Frage stellt sich der Theologe Thomas Philipp und zitiert in seinem Artikel Christliche Identität im 21. Jahrhundert die Aussage von Eugen Biser: Das Christentum befinde sich in der womöglich tiefsten Identitätskrise seiner Geschichte. Die Frage, warum es in unserer westlichen Kultur im Jahre 1500 praktisch unmöglich gewesen ist, nicht an Gott zu glauben, und warum ebendas nun, 500 Jahre später, im 21. Jahrhundert vielen von uns nicht nur leichtfällt, sondern die naheliegendste Option scheint, stellt der Philosoph Charles Taylor in seinem Buch Ein säkulares Zeitalter. Wenn der eher starre und wenig individuelle, fast schon alternativlose Weg der traditionellen christlichen Kirche viele Menschen nicht mehr anspricht, was gibt uns Halt, Stabilität und Orientierung? Denn der Wunsch nach Sicherheit und das Bedürfnis, sich in Verbindung zu fühlen, ist groß. Mit der immer schneller und hektischer werdenden Lebensweise des 21. Jahrhunderts sehnen sich Menschen umso mehr nach Resonanzerfahrungen und dem verloren gegangenen Gefühl des Vertrauens, der Ruhe und der Geborgenheit. Auf verschiedenste Weise wird nach Möglichkeiten innerer Erfahrungen gesucht und versucht, sich zu verbinden, sich zu fühlen und in Resonanz zu erfahren. Es wird an sich gearbeitet und versucht, geistig zu wachsen („self growth“), in einem Ausmaß, dass auf dieser drängenden Suche schon die Gefahr besteht, im „Erlebniskonsum“ steckenzubleiben. Erleben wir heute also tatsächlich eine religiöse Gleichgültigkeit, die die offiziellen und stillen Kirchenaustritte erklären würde? Charles Taylor begibt sich auf die Suche nach gegenwärtigen Erscheinungsformen religiösen Glaubens und kommt zu dem Schluss, dass es neben der kirchlich organisierten Religion, die immer mehr an Boden verliert, eine „privatistische“ und eher „frei schwebende“ Spiritualität durchaus gibt. Er spricht vom „Rückzug des Christentums“ und stellt gleichzeitig fest, dass dieser Vorgang nicht mit einem Verschwinden religiösen Glaubens zu verwechseln sei. Stattdessen gebe es vielfältige spirituelle Suchbewegungen. Denn kaum anders als vor 500 Jahren erleben Menschen auch heute persönliche Dramen, Schicksalsschläge und Verluste, haben Fragen, suchen nach Sinn und Bedeutung. Hinzu kommt die enorme Beschleunigung der Lebensweise im 20. und 21. Jahrhundert, die ihre ganz eigenen Belastungserfahrungen mit sich bringt. Patrick Kury bezieht sich in seinem Buch Der überforderte Mensch auf den Soziologen Andreas Reckwitz, der einen permanenten „unternehmerischen“ Wettbewerb des Menschen in der Postmoderne beschreibt, der damit erklärt wird, „beständig im Komparativ qualitativer Steigerung zu denken“, und der den Menschen in einen Sog der Selbstoptimierung geraten lasse. Eine forcierte Wettbewerbssituation als Folge dieser Entwicklung zwingt den Menschen, sich andauernd zu optimieren. Daneben lässt die Individualisierung, die Flexibilisierung durch technologische und digitale Entwicklungen und die beschleunigte Lebensweise in der heutigen Multioptionsgesellschaft psychische und körperliche Stressbelastungen bei den Menschen entstehen. Und je größer die Gesamtbelastung, desto mehr scheinen sich Menschen eigenen Formen der Spiritualität zuzuwenden. Mutet also vor allem die traditionsgebundene Struktur der Kirche und die kaum weniger traditionsgebundene Vermittlung der Frohen Botschaft als nicht zeitgemäß an? Denn auf der Suche danach scheinen wir doch zu sein.

 

Glaube ist nicht nur eine Frage der Botschaft, sondern Glaube richtet sich auch danach, wie diese Botschaft empfangen werden kann. Er ist eine Frage der Resonanz, des Sichidentifizierenkönnens und des Abgeholtwerdens. Eine Hoffnungsbotschaft kann verstanden werden, wenn sie eine Fläche findet, an der sie andocken kann, und wenn die Fläche eine zeitgemäße Anbindung ermöglicht. Wenn Strukturen und Traditionen fernab der eigenen Lebensweise sind oder das Werteverständnis nicht mehr übereinzustimmen scheint, genügt es nicht, dass die Aussage

richtig ist, „weil man an einer Wahrheit vorbeigehen kann, die nicht anzieht,“ wie der französische Geistliche Albert Jean-Marie Rouet feststellt. So sind Ohren und Augen und Herzen nicht mehr aufnahmebereit für die tröstende und haltgebende Botschaft des christlichen Glaubens. Auch wenn diese schön verpackt, gut dokumentiert und traditionsreich vermittelt angeboten wird, ist die Begehrlichkeit entscheidend davon abhängig, welche Wege sie findet, um den Einzelnen zu erreichen, welche Tonlage sie anstößt, um gehört zu werden, und welcher Flexibilität sie sich bedient, um mit den gesellschaftlichen Veränderungen mithalten zu können. Interessant scheinen mir in diesem Zusammenhang die klaren Worte des christlichen Mystikers Meister Eckhart. Die vorliegende Arbeit untersucht die Frage, welche Bedeutung Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung für das schnelle, flexibilisierte und individualisierte Leben der Gegenwart und vor allem die damit verbundenen Anforderungen und Belastungen des Individuums haben kann und welche Glaubenszugänge es dafür bereithält. Es soll die Hypothese belegt werden, dass Meister Eckharts Trostbuch und sein Konzept der Gelassenheit dem gestressten und überforderten Menschen entgegenkommt, vor dem Hintergrund der vom traditionellen Glauben abgekehrten Lebensweise und Alltagsbewältigung. Im ersten Schritt werden die Belastungserfahrungen der postmodernen Gesellschaft dargelegt. Anschließend ist bündig zu klären, was unter Mystik verstanden werden kann und wie mystische Erfahrungen erlebt werden. Meister Eckharts Mystik im Speziellen, sein Gottesverständnis und sein Lehrvorhaben sind Gegenstand des nächsten Abschnitts. Anhand seiner lebensnahen Beispiele und der dazu formulierten Trostgründe möchte ich im Folgenden zeigen, welche Relevanz Meister Eckharts Predigten für das schnelle Leben in der Gegenwart noch immer haben, wie Gott nach Meister Eckhart „wiederentdeckt“ werden kann, was dazu nötig ist und weshalb der persönliche Gottesglaube angesichts der spezifischen Belastungen der Gegenwart immer noch das Potential der Unterstützung und Stärkung bietet.

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Die Belastungserfahrungen der postmodernen Gesellschaft

Der Soziologe Andreas Reckwitz ordnet unsere gegenwärtige Gesellschaft der "Spätmoderne" oder "Postmoderne" zu, die mit den 1970er/1980er Jahren einsetzt und bis heute andauert. Als Problemstellung unserer Gesellschaft erkennt er – vor allem im Umfeld der gut ausgebildeten urbanen Mittelschicht – einen hohen Besonderheitsanspruch (Singularitätsanspruch) und eine hohe Erwartung, sich selbst entfalten zu können und sich zu verwirklichen. Speziell spricht Reckwitz von einem stark intrinsisch motivierten Menschen, sich permanent selbst zu kreieren, und verwendet dafür die Formulierung des „Unternehmers seiner Selbst“. Das Maß gelungener Selbstentfaltung in individueller Einzigartigkeit ist ein Standard, an dem der Einzelne sich selbst misst, aber auch noch dazu durch das gesellschaftliche Umfeld beurteilt wird. Genau darin sieht Reckwitz den Hintergrund für viele psychische Überforderungssymptome. Sie treten besonders dann auf, wenn Selbstoptimierungspraktiken an Grenzen stoßen, die sich der Gestaltung durch den Einzelnen entziehen wie z.B. Tod von Nahestehenden, Krankheit, Katastrophenfälle, gescheiterte Berufsentscheidungen, gescheiterte Ehen. Außerdem hält Reckwitz bereits in seinem Buch Das hybride Subjekt fest, dass es dem Menschen auf seiner fortwährenden Suche nach Möglichkeiten der inneren Erfahrung durch die Selbstoptimierung an souveräner Selbstregulierung mangelt. Das Subjekt der Postmoderne scheint stetig weiter suchen zu müssen, ohne je am Ziel anzukommen. Der ausgiebige Umgang mit neuen digitalen Medien wird als zentrale Praktik des Selbst beschrieben. Der Mensch befindet sich als „User“ im Raum der unendlichen (Wahl)Möglichkeiten. Hinzu kommt die enorme Beschleunigung, die in der heutigen Gesellschaft verzeichnet werden kann, durch eine Vervielfachung an Möglichkeiten (Multioptionsgesellschaft) und pausenlose Erreichbarkeit, wie auch die durch solche Entwicklungen geforderte hochgradige Anpassungsfähigkeit im Alltag. Es wird Flexibilität vom Einzelnen gefordert, in Arbeitsverhältnissen, Beziehungsformationen und in der persönlichen Zukunftsplanung. Der Historiker Patrick Kury bezieht sich in seinem Buch Der überforderte Mensch auf Miriam Meckels Beschreibung einer „Freiheitsillusion“ und stellt mit Rekurs auf den Soziologen Richard Sennett fest, die postmoderne Flexibilisierung zerstöre zugleich die lebenswichtige Routine, durch die der Mensch Sicherheit und Stabilität wahrnimmt. Der Begriff „Stress“ hat sich in den letzten 70 Jahren nicht nur etabliert, sondern konstant weiterentwickelt und ist mittlerweile fester Bestandteil unserer Alltagssprache. Kury fasst das Phänomen mit seinen unzähligen Überlastungssymptomen auf knapp 300 Seiten Stressgeschichte zusammen. Er bezieht sich dabei auch auf den Sozial- und Kulturhistoriker Peter Borscheid, der die Zeit zwischen 1950 und der Gegenwart samt all ihren neuen Technologien als „Tempophase“ bezeichnet. Diese sei in der Wirtschaft und in der Gesellschaft erkennbar, dringe aber auch bis in die Privatsphäre hinein, mit einem permanenten Konfliktpotential zwischen Arbeit und Privatleben. Die Beschleunigung der heutigen Lebensweise beeinflusst das Stressempfinden ganz erheblich. Aber auch das eingangs erwähnte hohe Anspruchsniveau des Menschen an sich selbst und durch seine Umgebung und die damit einhergehende hohe Fallhöhe ist ein enormer Stressfaktor, ebenso wie die dargelegte hochflexible und auf Kurzfristigkeit angelegte Gesellschaft, sodass die immer neue Anpassungsleistungen fordernde Gesellschaft der Postmoderne viele gestresste Menschen hinterlässt.

Das Potential der christlichen Mystik als offener und persönlicher Glaube

Bis heute gibt es keine klare Definition der Mystik, nicht zuletzt, weil sich neben der Theologie auch andere Disziplinen wie die Germanistik, die Religionswissenschaft und die Philosophie diesem Phänomen widmen. Vor allem aber scheint der Begriff der Mystik verwendet zu werden, um sich auf tiefprägende Erfahrungen zu beziehen, die eine Existenz Gottes erahnen lassen. Als unio mystica werden sie beschrieben, als „geheimnisvolle Vereinigung“ mit Gott. Die gebräuchliche Definition der christlichen Mystik geht auf den Theologen Bonaventura da Bagnoregio (um 1221–1274) zurück. Er versteht Mystik als „cognitio Dei experimentalis“, als „auf Erfahrung gegründete Gotteserkenntnis“. Gott wird nicht nur geglaubt und gedacht, sondern die Existenz einer göttlichen Kraft wird durch einzelne oder viele religiöse Erlebnisse innerlich erfahren. Wie persönliche Erfahrungen nun einmal sind, können sie manchmal nur schwer in Worten gefasst werden. Vielleicht wurde daher der geheimnisvoll anmutende Ausdruck der Mystik gewählt, um diese Art der Resonanzerfahrungen zu beschreiben. Das Mystische ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem Mythischen (Sagenhaften) oder dem Mysteriösen (Unverständlichen). Es kann vielmehr als ein Erfahrungswert des noch Verborgenen definiert werden. Wie im folgenden Kapitel beschrieben werden wird, können mystische Erfahrungen auf verschiedene Weise gemacht werden. Interessant ist aber, dass auch die christliche Kirche in ihren rituellen Traditionen durchaus Elemente mystischer Erfahrung beinhaltet. Ein Beispiel sind die Sakramente, im Speziellen die Eucharistie bzw. die Abendmahlsfeier, die innerhalb der kirchlichen Gemeinde die Gegenwart Gottes zu vergegenwärtigen suchen. Ein für mich besonders schönes rituelles Detail in der katholischen Kirche ist außerdem das rituelle Bekreuzigen, das gestische Bekennen der Dreifaltigkeit Gottes. Dieser Gestus, bei dem durch die Handführung vom Kopf oder der Stirn (Einsicht) zum Bauch (Erfahren) und zum Herzen (Fühlen) eine Verbindung hergestellt wird, kann neben dem Bekennen der dreifaltigen Einheit Gottes zugleich auch als ein Sinnbild des ganzheitlichen Verstehens und Verinnerlichens Gottes begriffen werden. Der Glaube wird durch religiöse Erfahrung untermauert und die rein rational ausgeführte Theologie tiefer verankert. Die Mystik betreffend stellt sich nun die Frage, warum und wie es geschieht, dass manche Menschen auch außerhalb der Traditionen der Kirche mitten im Leben auf Gott treffen. Ich wage hinzuzufügen, dass Mystik außerdem beinhalten kann, sich bewusst für ein Erleben von Gott zu öffnen. Die Mystik ist keineswegs nur auf das Christentum beschränkt. Bereits in den Veden, den uralten Schriften Indiens, und im chinesischen Taoismus findet man mystische Lehren, ebenso im Sufismus, in der Philosophie und im mystischen Denken des Hinduismus und des Zen- Buddhismus. Anhand der Niederschriften der christlichen Mystiker*innen können wir vor allem seit dem Mittelalter einen roten Faden von christlichen Gotteserfahrungen erkennen und nachvollziehen. Die Mystiker*innen versuchen, in diesen Schriften Anleitungen dazu zu geben, zur „cognitio Dei experimentalis“ bereits in diesem Leben zu gelangen. Die Mystik ist also eine religiöse Haltung, die Gott nicht im Jenseits oder als ferne Kraft verortet, sondern als im Hier und Jetzt erlebbar und dem Menschen zugewandt begreift. Die individuelle Erfahrung dieser Gottesverbindung ist charakteristisch für die Mystik.

Was ist eine mystische Erfahrung?

Mit einem Gefühl des Verbundenseins und der Einheit werden die mystischen Erfahrungen beschrieben, die Menschen über verschiedene Jahrhunderte, Religionen und Kulturen hinweg gemacht haben. Im Zentrum steht die Erfahrung, sich nah und in Resonanz mit einer göttlichen Kraft zu fühlen. Die mystische Erfahrung kann nach Ansicht der Mystiker*innen nicht erzwungen werden. Es kann sich jedoch darauf vorbereitet, danach gesucht und still darum gebeten werden, es kann in sich Platz geschaffen werden für eine Begegnung mit Gott. Helga Kuhlmann untersucht in ihrem Artikel Offener für die Kraft ... die durch dich wirken will, ob die Theologin Dorothee Sölle als Mystikerin gelten kann und zitiert Dorothee Sölle mit den Worten, „Wenn es ein Verb für die Mystik gäbe, wäre es beten.“ Ein solches Beten auf mystische Art setzt allerdings für sie ein zugewandtes und inniges „Liebesverhältnis“ zwischen Gott und dem Menschen voraus, kein Herrschaftsverhältnis mit strafenden Anteilen von Seiten Gottes. Mystische Erfahrungen können im Gebet stattfinden, aber auch in der Meditation oder vertieft in eine Aufgabe. Uta Störmer-Caysa zitiert in ihrem Buch Einführung in die mittelalterliche Mystik, den Bericht von Johannes Meyer (1422–1482) über eine Nonne, die „wegen ihrer großen Liebe und Andacht, die sie zum lieben Herrgott hatte, so sehr und oft verzückt wurde, besonders zu Tisch und zu der Zeit, wenn sie die heiligen Sakramente empfangen hatte“. Solche Erfahrungen, die eine größere und umfassendere Verbundenheit erleben lassen, können also auch durch Begegnungen mit der Natur, durch ein Kunstwerk oder ein Musikstück ausgelöst werden und nicht unbedingt einen religiösen Bezug haben. Genauso wenig wie mystische Erfahrungen übertragbar sind, genauso unterschiedlich sind die Erlebnisse. Sie reichen vom Kontemplativen und einem Gefühl des Herausgehobenwerdens aus dem Eigenen, einer Erfahrung des Einssein und der Gottverbundenheit bis hin zu Gefühlen der Dankbarkeit, Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit dem Leben gegenüber. Volker Leppin zieht außerdem den Vergleich zu Liebesgedichten, die insofern dieselbe Schwierigkeit besitzen, als dass sie Beschreibungen von persönlichen Gefühlen sind, genau wie der persönliche Gottesglaube. Sie lassen sich nicht einheitlich und vollständig nachempfinden, da diese Erfahrung immer individuell ist. So empfindet Jede*r auch die Verbindung zu Gott ganz eigen. Um die christliche Mystik Meister Eckharts, die sich auch von manchen vorab dargestellten mystischen Erfahrungen unterscheidet, um Meister Eckharts Innensicht und sein Gottesbild soll es in den folgenden Kapiteln gehen.

Der mystische Theologe Meister Eckhart und sein Buch der göttlichen Tröstung

Mit Meister Eckhart (um 1260 – 1328) wird nach Kurt Ruh die Mystik im Rahmen des Christentums in größerem Stil greifbar. Bis heute gilt seine Glaubensvermittlung als relevante „Lebenshilfe“. Seine Charakterisierung als „Mystiker“ ist in der Forschung allerdings umstritten.

Meister Eckhart wurde in Hochheim oder Thambach in Thüringen geboren. Er trat als Jugendlicher dem Dominikanerorden bei und absolvierte ein Studium vermutlich zunächst in Köln und später in Paris. Meister Eckhart war Theologe und Philosoph, er lehrte an der Pariser Universität und wirkte darüber hinaus als Prediger und Seelsorger. Er war also akademisch gebildet, bekleidete im Dominikanerorden hohe Ämter und stand zugleich mit beiden Beinen im praktischen Leben. Er predigte unter anderem das Konzept der „inneren Armut“, um das es in dieser Arbeit noch gehen soll. Einen Teil dieser Predigten fasste er in seinem Buch der göttlichen Tröstung zusammen, für das er seinerzeit nicht nur Lob und Zuspruch empfing. Unter dem Vorwurf, die Menschen mit seinen Predigten zu „vernebeln“, wurde er der Häresie angeklagt und posthum auch verurteilt. Seine Predigten und Darstellungen wurden verboten und konnten nur noch unter falschem Namen oder anonym verbreitet werden.

Die Predigten Meister Eckharts enthalten nach dem Urteil des dominikanischen Ordenspriesters Richard Glöckner auch heute noch eine zukunftsoffene und neue Ausrichtung für die traditionelle christliche Glaubensverkündung bereit und sie schaffen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, Anregung und Einsicht. Kritisch hinterfragt und unterschiedlich beurteilt wird, wie weit er mit Hinblick auf seine philosophischen Prägungen als Denker der Scholastik als Mystiker zu charakterisieren ist. Kurt Ruh beschreibt ihn als „metaphysisch ausgerichtet“, wobei er die Metaphysik als spekulative, die Erfahrung überschreitende Theologie und Philosophie versteht. Was Grundlage für Mystik sein, aber nicht mit ihr gleichgesetzt werden kann. Peter Dinzelbacher kommt zu der Beschreibung Meister Eckharts als mystischer Theologe. Das „Buch der göttlichen Tröstung“, das Meister Eckhart für die verwitwete Königin Agnes von Ungarn verfasste, entstand wohl zwischen 1313 und 1323 in seiner Straßburger Zeit als Ordensvikar für die Dominikanerinnen. Dieses Trostbuch, in deutscher Sprache verfasst, richtet in der Form von Predigten „Trostgründe“ an den Menschen. Es wurde zusammen mit der Predigt „Vom edlen Menschen“ als Einheitswerk Liber Benedictus verfasst und gilt Peter Dinzelbacher zufolge als wichtigste Schrift Meister Eckharts. Meister Eckhart tröstet in den Schriften gemäß seiner Aufgabe als Seelsorger und zeigt Wege auf, um sich mit Gott verbinden zu können. Die Trostgründe beziehen sich nicht ausdrücklich auf schwere Schicksalsschläge oder Verluste, vielmehr auf den Umgang mit Enttäuschungen, Beschwernissen, Anforderungen und Fragen im Leben eines jeden Menschen. Enthalten sind seinen Predigten 40 Gründe für den Trost mit Beispielen aus dem Alltagsgeschehen, Metaphern der Natur, Bezugnahmen auf die Bibel und die Philosophie und Ausführungen der Theologie. Einige dieser Trostgründe sind Gegenstand der folgenden Betrachtung und wurden zur Veranschaulichung von Meister Eckharts Konzept der inneren Armut und der Gottesgeburt in der Seele des Menschen ausgewählt, dem er sich aus verschiedenen Perspektiven nähert.

Das Motiv der Gottesgeburt in der Seele des Menschen, seine heutige Relevanz und das tröstende Konzept der inneren Armut

Die Mystik Meister Eckharts zeigt sich nicht in fernen Gottesvisionen oder ekstatischen Einheitserfahrungen. Sie zeigt sich in der Erkenntnis: Gott erfüllt den Menschen mit seinem göttlichen Sein, jetzt und immer. Diese Resonanzerfahrung, diese Erfahrung des Widerhalls steht dem Menschen jederzeit zur Verfügung. Für die Verinnerlichung und um sich dieser Gottespräsenz bewusst werden zu können, beschreibt Meister Eckhart sein anschauliches Konzept der inneren Armut. Die innere Armut meint ein Sich-frei-Machen im Geiste, um Platz zu schaffen für die Geburt Gottes in der Seele des Menschen. Diese „Armut im Geiste“ meint nicht fehlenden Verstand oder Vernunft, sondern das Raumschaffen für Gott und Loslassen von Vorstellungen, Überzeugungen, limitierenden Gedanken – schlicht Ballast, um den Besuch Gottes in der Seele des Menschen zu ermöglichen. Die Grundpfeiler von Meister Eckharts Lehre basieren auf dem „Alleslassen“ und dem „Zunichtewerden“, um für Gott innerlich einen Saal zu räumen, damit er diesen leeren Raum füllt. Ein zentraler Trostgrund, den Meister Eckhart bildhaft ausführt, lautet:

„Kein Gefäß kann zweierlei Trank fassen. Soll es Wein enthalten, so muss man notgedrungen das Wasser ausgießen; das Gefäß muss leer und ledig werden. Darum: sollst du göttliche Freude und Gott aufnehmen, so musst du notwendig die Kreaturen ausgießen. Sankt Augustinus sagt: ‚Gieß aus, auf daß du erfüllt werdest. Lerne nicht lieben, auf daß du lieben lernst. Kehre dich ab, auf daß du zugekehrt werdest.‘ Kurz gesagt: Alles was aufnehmen und empfänglich sein soll, das soll und muss leer sein.“

 

Wer eine gute Tasse heißen Tee trinken möchte, muss zuerst den kalten Teerest ausgießen, um keine lauwarme Mischung zu erhalten. Was könnte mit dem Leermachen gemeint sein? Wie kann es vonstatten gehen? Mit Richard Glöckner geht es um ein Sichtrennenkönnen von menschlichen Zweifeln und Ungewissheit, von verfestigten Vorurteilen, Belastungen und unzuträglichen Bindungen, um Platz für Gott zu schaffen und sich von ihm bestärkt und geleitet zu fühlen. Der Mensch darf einen Weg finden, um sich von sich selbst zu lösen, er darf von sich lassen, darf Anspruch und Ehrgeiz und Ambitionen ablegen, auf Gott vertrauen und Gott in diesem befreiten Zustand erfahren. Diese Armutsforderung von Meister Eckhart beschränkt sich auch nicht auf das Freimachen von materiellen Wünschen und Bezügen, wie es religiöse Praxis der Askese war und spirituelles Bedürfnis teilweise auch noch heute ist. Wein und Wasser, Zweifel und Zuversicht, menschengemachte Vorstellungen und die Wahrheit Gottes, nach Meister Eckhart muss das Gefäß von dem Geschaffenen leer sein, damit es sich mit Gott und der richtigen Substanz füllen lässt, um die Lebendigkeit der göttlichen Kraft im Inneren wahrnehmen zu können, um frei zu sein für Gott. Peter Dinzelbacher deutet Meister Eckhart so, dass der Mensch, der wahre, innere Armut erleben will, seines geschaffenen Willens ledig werden müsse. Das bedeutet, dass er vom Wollen ablassen müsse, und sei es vom Wollen, Gottes Willen zu erfüllen. Der Mensch darf lediglich sein, er darf in den Zustand vor dem Wollen und Müssen zurückkehren und damit zu Gott. Es ist also nicht die äußere Besitzlosigkeit, auch nicht das Abstellen des Verstandes, was die innere Armut ausmacht, es ist das Ablassen vom eigenen Begehren, vom Beanspruchen, Anvisieren, Benötigen, Erreichenmüssen und Richtigmachenmüssen. Gott wird spürbar in der Gelassenheit, aus der neue Möglichkeiten, Freude, Lösungsansätze und Lebensimpulse entspringen. Ein Arm- und Freimachen für Gott bedeutet für Meister Eckhart auch, aus einer anderen Perspektive auf die eigenen Lebensumstände blicken zu können:

„Nun setze ich den Fall, ein Mensch habe hundert Mark; davon verliert er vierzig und behält sechzig. Will der Mensch nun immerfort an die vierzig denken, die er verloren hat, so bleibt er ungetröstet und bekümmert. Wie könnte auch der getröstet sein und ohne Leid, der sich dem Schaden zukehrt und dem Leid [...], und er plaudert mit ihm und spricht mit dem Schaden, und der Schaden wiederum plaudert mit ihm, und beide schauen sich an von Angesicht zu Angesicht? Wäre es aber so, daß er sich den sechzig Mark zukehrte, die er noch hat, und den vierzig, die verloren sind, den Rücken kehrte und sich in die sechzig Mark versenkte und die von Antlitz zu Antlitz anschaute und mit ihnen plauderte, so würde er sicherlich getröstet.“

Meister Eckhart ruft zum Sichbewusstwerden und zur Dankbarkeit gegenüber dem (noch) Bestehenden und seinem Wert auf. Auch damit werden eine innere Befreiung und somit Raum für Gott geschaffen. Der Mensch soll sich in schwierigen Situationen und belastenden Zeiten des noch Verbleibenden, der sechzig von hundert Mark, erinnern und damit des noch andauernden Guten im Leben. In unserer Wahrnehmung kann eine Situation entweder einfacher oder schwieriger erscheinen. Meister Eckarts Aufruf zum Perspektivwechsel kann zu einer anderen, entlastenden Sichtweise auf unerwünschte Geschehnisse führen, auf verpasste Gelegenheiten und empfundene Ungerechtigkeiten:

„Darum spricht Salomon: 'In den Tagen des Leids, vergiß nicht der Tage des Wohlseins‘. (Eccles. 11, 27). Das will sagen: Wenn du im Leid und Ungemach bist, so gedenke des Guten und des Gemachs, das du noch hast und behältst. Auch wird das wiederum den Menschen trösten, wenn er bedenken will, wie manches tausend derer lebt, die, wenn sie die sechzig Mark besäßen, die du noch hast, sich für große Herren und Damen hielten und sich sehr reich dünkten und von Herzen froh wären.“

Der Mensch, der einen Verlust erlitten hat, soll sich all diejenigen vor Augen führen, die glücklich wären, die übriggebliebenen sechzig Mark zu besitzen, die viel weniger haben als er selbst, die in schwierigeren Situationen sind und schlechtere Voraussetzungen haben. Auch die sechzig Mark sind nicht als selbstverständlich zu betrachten und ein Anspruch auf die hundert Mark oder selbst die sechzig Mark besteht nicht. Gott verteilt keine Berechtigungen auf Reichtum, Sicherheit und Glück, sie sind eher ein Geschenk, und es liegt am Einzelnen, dieses Geschenk zu erkennen. Meister Eckhart spitzt diesen Gedanken an anderer Stelle noch zu, wenn er auf die Zeitgebundenheit des Guten abhebt und vom Borgen spricht:

„Sintemalen dem Menschen alles das, was gut oder tröstlich oder zeitlich ist, ihm auf Borg geliehen ist, was hat er dann zu klagen, wenn der, der es ihm geliehen hat, es zurücknehmen will? Er soll Gott danken, der es ihm so lange geliehen hat.“

Meister Eckhart rät des Weiteren:

„Darum spricht König David und klagt im Psalter: ‚Tränen waren mein Trost Tag und Nacht, solange man noch sagen konnte: Wo ist dein Gott?‘ (Ps. 41, 4). Denn das Hinneigen zur Äußerlichkeit und das Trostfinden an Untrost und das lustvoll eifrige und viele Reden darüber ist ein wahres Zeichen dafür, daß Gott in mir nicht sichtbar wird, nicht in mir wacht, nicht in mir wirkt. [...] Ein guter Mensch soll niemals über Schaden klagen noch über Leid; er soll vielmehr nur beklagen, daß er klage und daß er das Klagen und das Leid in sich wahrnimmt.“

Hier spricht Meister Eckhart das verlorengegangene tröstliche Bewusstsein der fortdauernden Begleitung durch Gott an. Sich endlos zu beklagen, zu jammern und zu grübeln, ist für Meister Eckhart der eigentlich beklagenswerte Zustand. Der Trost wird noch nicht genannt, aber es wird vorbereitet auf einen weiteren zentralen Trostgrund. Denn es geschehen Dinge, die der Mensch sich anders gewünscht hat, das Leben nimmt eine unerwartete Wende oder ein Plan geht nicht auf. Um dem „Warum ich“ oder dem „Warum ich nicht“ entgegenzuwirken, nennt Meister Eckhart einen weiteren wichtigen Trostgrund.

“Und darum lehrt unser Herr die Apostel und uns in ihnen und beten wir alle Tage darum, daß Gottes Wille geschehe. Und doch, wenn Gottes Wille kommt und geschieht, so klagen wir. Seneca, ein heidnischer Meister, fragt: Was ist der beste Trost im Leiden und im Ungemach? und antwortet: Es ist dies, daß der Mensch alle Dinge so hinnehme, als habe er’s so gewünscht und darum gebeten; [...] Ein guter Mensch soll darin Gott vertrauen, daß es Gott und seiner Güte und Liebe unmöglich ist, zuzulassen, daß dem Menschen irgendein Leiden oder Leid zustoße, ohne daß er entweder dem Menschen größeres Leid dadurch verhüten oder ihn auf Erden schon stärker trösten oder etwas Besseres davon und daraus machen wolle, worin Gottes Ehre umfassender und stärker in Erscheinung träte.“

 

Meister Eckhart spricht von dem Trost, der darin liegt, sich Gott zu über-lassen. Der Trost besteht darin, nicht mit der Realität und dem Leben, so wie es ist, – man könnte mit Eckhart sagen mit dem Willen Gottes – zu streiten. Denn ein solcher Streit kann nur verloren werden. Das Leben ist ein Geschenk und es ist Gnade, da es von Gott kommt. Meister Eckhart spricht davon, dass Gott ein Leid nur geschehen lasse, um Schlimmeres zu verhindern oder um den Menschen durch diese Prüfung mit einem noch größeren Gewinn zu entlohnen. Der Mensch soll mit Demut und Zuversicht dem Leben und damit Gott gegenüber darauf vertrauen, dass sich die Geschehnisse zu seinem Guten entwickeln werden. Meister Eckhart sagt:

„Das erste ist dies, daß kein Ungemach und Schaden ohne Gemach und kein Schaden bloßer Schaden ist.“

Wir sind gemäß Meister Eckhart aufgerufen, mit dem göttlichen Willen so übereinzustimmen, dass wir selbst wollen, was immer Gott will. Das bedeutet, was immer das Leben fordert, denn es fordert. Mit der Realität zu hadern, zu wünschen sie wäre anders, zu bedauern, keinen anderen Weg eingeschlagen zu haben, zu wüten, zu trauern und bitter zu werden, lässt uns im Leid verharren. Sich Gottes Willen zu überlassen, beweglich mit dem Leben zu gehen und von dem zweifelnden Gedanken abzulassen, es könnte anders sein als es ist, obwohl es ist, wie es ist, und daher nicht anders sein kann, darin beschreibt Meister Eckhart Trost. Auch mit dem Versprechen, dass noch etwas viel Besseres auf den, der vertrauen kann, wartet.

Von der ‚gedachten‘ Wahrheit zur ‚seienden‘ Wahrheit Gottes

Meister Eckharts These ist: „Das Sein ist Gott“. Unser Sein, alles Sein ist Gott. Das, was der Mensch als Ich empfindet, steht dem wahren Selbst, das durch ein Sichfreimachen erfahren werden kann, im Weg. Seine Gedanken, Erlebnisse, Vorstellungen, Prägungen und die Meinungen anderer Menschen sind nicht das, was ihn ausmacht. Das wahre Selbst lässt sich durch ein innerliches Freimachen und „Lassen“ erfahren. Mit Peter Dinzelberger gibt es für Meister Eckhart kein Sein, außer dem Sein Gottes. Für den Menschen kann es nur darum gehen, Spiegelbild der göttlichen Urform zu werden und sich dem „göttlichen Seinsstrom“ zu öffnen. Es geht darum, „Gelassenheit“ im Sinne der generellen Ablösung von allem raumzeitlich Geschaffenen zu kultivieren, denn „leer sein aller Kreaturen ist Gottes voll sein“. Es ist ein Ruhen in sich und ein Ruhen in Gott, erfahren durch Achtsamkeit und Rückzug ins Innere. Abgeschiedenheit und Gelassenheit sind die Pforten, um die verdeckte Gegenwart Gottes wieder aufspüren zu können.

„Und deshalb muss es etwas Innerliches und Höheres und Ungeschaffenes geben, ohne Maß und ohne Weise, in das der himmlische Vater sich ganz einzuprägen und einzugießen und in dem er sich zu offenbaren vermag [...].“

Die Mystik in Meister Eckharts Predigten ist nicht die ekstatische Begeisterung der mystischen Erfahrung, sondern die leise Gewissheit, Gott nahe zu sein. Sie besteht darin, Gott oder aber ganz speziell sich selbst und das Leben im Augenblick zu spüren und die Verbundenheit mit Gott so im Sein zu erfahren. Die Einheit aus Mensch und Gott betont Meister Eckhart als Ziel unserer Existenz.

„Deshalb sagt das Evangelium: ‚Selig sind die Armen des Geistes‘. (Matth. 5,3), das heißt: des Willens, und bitten wir Gott, daß sein ‚Wille geschehe‘ ‚auf Erden‘, das heißt: in Gott selbst.“

Was können wir heute aus dieser Darstellung schöpfen?

Meister Eckhart schrieb sein Trostbuch vor knapp 700 Jahren. Es scheinen den Menschen heute ähnliche Fragen zu betreffen wie zu seiner Zeit, sei es die Angst vor dem Ungewissen, die Grenzen der menschlichen Kontrolle über das Geschehen, materielle Sorgen oder persönlicher Kummer, wie auch das Hadern mit Schicksalsschlägen oder auch nur verpassten Chancen. Was könnte an Meister Eckharts Sichtweise für uns heute also hilfreich oder wenigstens anregend sein? Erstens: Gott ist Sein. Gott ist keine ferne Lichtgestalt, die den Menschen im Jenseits erwartet. Gott ist das Leben, er ist die Kraft, die jedes Lebewesen atmet. Dabei geht es vor allem um ein Sich-bewusst-Machen Gottes, der wirkt, indem er begleitend und unterstützend erfahren wird, auch wenn der Einzelne durch schwierige Phasen geht. Meister Eckhart zufolge behütet Gottes erfahrene Gegenwart den Menschen vielleicht gerade in solchen Zeiten. Zweitens: Meister Eckharts Weg der Ichlosigkeit, dem inneren Armwerden für Gott, inspiriert zur Übung der Gelassenheit. Es ermuntert im weiteren Sinne zum Ausschalten des Gedankenkarussells, ob es sich um Ungewissheiten, Zukunftsszenarien, Beanspruchungen oder Enttäuschungen dreht. Drittens: Der Mensch soll nicht mit der Realität, die Meister Eckhart auf den Willen Gottes zurückgeführt, streiten. Hätte, könnte, sollte anders sein, bedeutet zu streiten, mit dem was ist. Die Wirklichkeit ist Gott, weil sie regiert. Sie anzunehmen und bestimmt zu wissen, dass Schwierigkeiten und Leid nur mit darauffolgendem Gewinn und Erkenntnis einher gehen können, predigt Meister Eckhart. Gott im eigenen Sein zu erkennen, bedeutet auch, sich mit allem Notwendigen ausgestattet zu wissen, um aus dem Schwierigen herausfinden zu können und sich verantwortungsvoll und mitfühlend gegen Unrecht und Leid für Andere einzusetzen zu können. So vermischen sich bei Meister Eckhart Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis. Viertens: Der Mensch soll darauf achten, sich selbst kein Leid zuzufügen, indem er über das Schwierige fortwährend klagt. Das immer neue Durchspielen der unglücklichen Situation hüllt den Menschen in eine noch viel größere Wolke des Leids. Zu denken, man sei nicht dort, wo man sein müsste, oder wurde nicht mit dem ausgestattet, was man bräuchte, wird hinfällig, wenn der Einzelne sich selbst und Gott im eigenen Sein erkennen kann. Fünftens: Der Mensch soll sich dem zuwenden, was gut und zu loben wert ist im Leben. Nicht im Verlorenen, Verpassten und im Weniger-haben-als-Andere zu verharren, sondern sich dem zuzuwenden, was im eigenen Leben gut und wertvoll ist. Leiden oder Getröstetsein sind, Meister Eckhart zufolge, eine Sache der Einstellung. Eckhart weist darauf hin, dass aus dem Schwierigsten Gutes entstehen kann und dass Schwierigkeiten als Umwege in die richtige Richtung betrachtet werden können. Es kommt ihm auf eine Perspektive an, aus der gehandelt, gesprochen und gelebt werden kann. Sechstens: Anspruch auf und Berechtigung für, das sind Konzepte, die wir Menschen aufgestellt haben. Gott gibt und Gott nimmt. Er fächert nicht in Jedem die gleichen Talente, Reichtümer und Träume aus. Sein Geschenk an den Menschen ist das Leben. Es ist ein Geschenk der Gnade und der Theologe Martin Luther (1483 – 1546) sieht speziell die Demut als Voraussetzung dafür, die Gnade empfangen zu können. Der Mensch darf dankbar sein für all das Gute, das sich im eigenen Leben befindet, und es schätzen, denn es ist keine Selbstverständlichkeit. Meister Eckhart fordert dazu auf, das Leben mit all seinen Abzweigungen mehr zu lieben, als die eigene Vorstellung vom oder Erwartung an das Leben. Denn Gott hat einen größeren Überblick, schafft weitere Zusammenhänge und ermöglicht größere Pläne für jeden Einzelnen als die, die der Mensch selbst überblicken kann. Die Feststellungen des mittelalterlichen Predigers stoßen eine weitergehende Überlegung an, dass nämlich, wenn Gott das Leben ist, auch wir das Leben sind, dass Gott vielleicht nicht zu uns, sondern durch uns kommt. In diese Richtung hat auch die Theologin Dorothee Sölles gedacht. Ein bekannter Satz von ihr lautet: „Denn Gott, [...] hat keine anderen Hände als unsere. [...] Er will unsere Hände brauchen, unsere Augen, unsere Ohren [...].“ Daraus spricht die Aufforderung zum Aktivwerden und Nutzen der eigenen Kräfte gegen Unrecht und für die Nächstenliebe, aber auch das Erkennen der göttlichen Kraft in sich selbst, um mit Schwierigkeiten im eigenen Leben proaktiv umgehen zu können. Auch Peter Dinzelbachers Definition der Gottesgeburt im Menschen spricht von der ermächtigten inneren Haltung des Menschen, wenn er beschreibt, wie der Logos (Vernunft), den Gott immer neu gebiert und vergibt, aufgenommen und herausgetragen wird, damit der Mensch ihn in sich und die Welt hinein schöpferisch einbringt. Das Annehmen der Realität, wie sie ist, sowie das Armmachen für Gott, sodass er durch den Menschen wirken kann, steht nicht im Gegensatz zum Aktivwerden und dem Mobilisieren der eigenen Kräfte für das Gute und für die Gerechtigkeit. Meister Eckharts Gottesbild erkenne ich nicht als Aufforderung zum Passivsein und Geschehenlassen, sondern ich betrachte es als hilfreich, um aus Opferhaltung und Krise herauszufinden. Peter Dinzelbacher, der Meister Eckharts Predigten nicht als konkrete Handlungsanweisungen versteht, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Haltungsethik“ anstatt einer „Verhaltensethik“. Der Mensch kann mit innerer Haltung und im Bewusstsein der Begleitung Gottes Veränderung bewirken und Entscheidungen treffen, mit Optimismus Möglichkeiten erkennen und Lösungen finden, und mit einem Gottesverständnis in Anlehnung an Dorothee Sölle als Mensch Eigenverantwortung übernehmen. Mit ihren Worten möchte ich dieses Kapitel beschließen: „Es gibt eine Selbstauslieferung des Menschen an die Gnade, die frei macht. Dies geschieht im Sprechen zu Gott, in dem Anklagen gegen Gott und im Weinen in Gott, das zugleich Lob Gottes ist – trotz allem.“ So ist es auch bei Dorothee Sölle das Schweigen und das Sich-in-sich-zurückziehen und damit Raumschaffen, das es erlaubt, dass die göttliche Kraft in den Menschen eintreten kann.

Fazit

 

Die Anschlussfähigkeit des mittelalterlichen Textes Meister Eckharts an den christlichen Glauben im 21. Jahrhundert erachte ich als groß. Indem Andreas Reckwitz mit seiner Theorie der Selbstoptimierung die Kultur der Spätmoderne beschreibt, macht er auch auf ein Defizit an kulturellen Ressourcen zur Enttäuschungstoleranz aufmerksam. Wenn das spätmoderne Selbst an etwas leidet, so Reckwitz, dann ist es ein starkes Gefühl des subjektiven Ungenügens angesichts nicht bewältigter Enttäuschungserfahrungen, und er erkennt dahingehend wenig kulturelle Verarbeitungsressourcen. Hinzu kommen die vielen stressbedingten Belastungserfahrungen resultierend aus den eingangs erwähnten Beschleunigungs- und Flexibilisierungsbewegungen der Gegenwart. Kulturelle Muster wie Gelassenheit und Demut sind in der Spätmoderne aus dem Blick geraten. Reckwitz Analyse zufolge ist die Depression das charakteristische Krankheitsbild der Spätmoderne, vor allem in der neuen Mittelklasse. Der Historiker Patrick Kury bezieht sich auf die Aussage, Stress sei die „Krankheit des Jahrhunderts“, zitiert die „Generation Burnout“ und benennt das „Erschöpfungssyndrom“. Mittlerweile kann ein Zusammenhang von religiöser Gläubigkeit und Spiritualität und von körperlicher wie auch psychischen Gesundheit hergestellt werden, der seit jüngerer Zeit auch wissenschaftlich untersucht wird. Genau darin sehe ich das große Potential von Meister Eckharts Tröstungen und den darin beinhalteten Konzepten der Gelassenheit und der Demut. Gerade sie könnten ein Auffangbecken bieten für den überlasteten, vom „Beschleunigungsvirus“ infizierten Menschen, als Wappnung in der Spirale von Selbstoptimierungschance und Enttäuschungsbewältigung. Das Potential liegt unter anderem darin, dass durch die von Meister Eckhart dargelegte Achtsamkeitspraxis in der Tradition der mittelalterlichen Mystik dem Einzelnen eine Möglichkeit aufgezeigt wird, wieder in Verbindung zu sich, dem eigenen Körper und der dadurch fasslichen Lebenskraft zu gelangen. Sie ermöglicht ein Innehalten und Präsentwerden im Augenblick, wie auch ein Zurückbesinnen auf den eigenen unveräußerlichen Wert. Des Weiteren liefern Meister Eckharts Trostgründe Einblick in die eigenverantwortliche innere Haltung, den Fokus auf fruchtbare Möglichkeiten zu richten, statt Mangelerfahrungen gedanklich zu verfestigen. Dem Optimierungsdruck wird Gelassenheit entgegengesetzt und nicht zuletzt ein Demutsgedanke gesät, wenn nicht sogar eine aktive Glaubenspraxis angeboten. Die Tendenz der Gegenwartsgesellschaft zu einem eher privaten und persönlichen Glauben hat Charles Taylor in seinem Buch Ein säkulares Zeitalter beschrieben. Meister Eckhart liefert einen Glaubenszugang, der ganz privat und individuell und somit dem Konzept der Mystik entsprechend gefunden werden kann. Die Überlieferung des spätmittelalterlichen Autors mutet freier und undogmatischer an als die kirchliche Rahmensetzung, soll diese aber selbstverständlich nicht ersetzen oder abwerten. Hilfreich also für den autonomen, gestressten, ruhelosen, zweifelnden, zwischen Höhen und Tiefen balancierenden und trotzdem im Leben stehenden Menschen unserer Zeit kann ein persönlicher Glaube sein, der Platz in den gegebenen Lebensumständen findet und situativ vielleicht greifbarer erscheint als die institutionalisierte Glaubenstradition.

Karla Johanna Schaeffer: Meister Eckharts Trostbuch und seine Relevanz für den gestressten Menschen im 21. Jahrhundert, Wissenschaftliche Proseminararbeit, Universität Luzern, Theologische Fakultät, WS 2021.

 
Ausgewählte Literaturangaben:
 
Meister Eckhart: Das Buch der göttlichen Tröstung. In der Übertragung von Josef Quint, Leipzig 1987.
Glöckner, Richard: Meister Eckhart – Philosoph und Mystiker des Christentums. Aus den deutschsprachigen Predigten und Traktaten. Texte und Interpretationen, Berlin 2020.
Hampel, Nicola/ Schauenburg, Henning: Religiosität: in ihrem Einfluss auf ängstliche und depressive Symptome sowie Körperbeschwerden und Traumata überschätzt? Eine repräsentative Querschnittstudie, in: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Band 65, Ausgabe 3, Göttingen 2019, S. 288–303.
Kury, Patrick: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt/ M. 2012.
Leppin, Volker: Ruhen in Gott. Eine Geschichte der christlichen Mystik, München 2021.
Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen 2006.
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.
Rohde-Dachser, Christa: Resonanz als das andere der Vernunft. Versuch einer Verortung im wissenschaftlichen Diskurs der Postmoderne, in: Enthymema XXIV, 2019, S. 488–501.
Stachel, Günther: Meister Eckhart. Das Buch der göttlichen Tröstung. Von dem edlen Menschen, München 1996.

Vollständige Arbeit hier.

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